9. Die Alt-Katholische Kirche

Die alt-katholische Kirche entstand in Deutschland etwa zur selben Zeit, in der in vielen Gegenden Deutschlands freie lutherische Kirchen in der Auseinandersetzung mit den Evangelischen Landeskirchen entstanden. Das Gegenüber der alt-katholischen Kirche waren jedoch nicht die evangelischen Kirchen, sondern die römisch-katholische Kirche.

Anlass für die Entstehung der alt-katholischen Kirche war das I. Vatikanische Konzil 1870. Auf diesem Konzil – also erst vor weniger als 150 Jahren! – wurde die heute gültige Lehre von der Vollmacht des Amtes des Papstes in einem Dekret von den anwesenden Bischöfen verabschiedet. Der Konzilsentscheidung vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen auch unter den Bischöfen selber: Sie hatten erst auf dem Konzil selber erfahren, dass die Lehre von der Vollmacht des Papstes dort behandelt und in einer zugespitzten Form verabschiedet werden sollte. Mehr als 100 von ihnen erhoben gegen den beabsichtigten Konzilsbeschluss Widerspruch, darunter auch viele Bischöfe aus Deutschland. Dennoch wurde das Dekret am Ende vom Konzil verabschiedet, nachdem viele Bischöfe, die gegen diesen Beschluss gewesen waren, das Konzil bereits zuvor verlassen hatten. In dem Dekret „Pastor Aeternus“ heißt es unter anderem: „Wer daher sagt, der heilige Apostel Petrus sei nicht von Christus, dem Herrn, zum Fürsten aller Apostel und zum sichtbaren Haupt der ganzen streitenden Kirche bestellt worden, oder er habe nur einen Ehrenprimat und nicht den Primat der wahren und eigentlichen Jurisdiktion (Rechtsprechung) von unserem Herrn Jesus Christus direkt und unmittelbar erhalten, der sei im Banne …“ „Wer also behauptet, es beruhe nicht auf der Anordnung Christi des Herrn selber oder nicht auf göttlichem Rechte, dass der heilige Petrus im Primat über die gesamte Kirche immerwährend Nachfolger habe; oder der römische Papst sei nicht Nachfolger des heiligen Petrus in diesem Primate, der sei im Banne …“ Schließlich wurde im Dekret die Unfehlbarkeit des römischen Papstes bei der Verkündigung von Glaubenssätzen ausdrücklich als unabänderliches Dogma erklärt: „Wenn der römische Papst in amtlicher Lehrgewalt (ex cathedra) spricht – das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen, kraft seiner höchsten apostolischen Autorität eine von der  gesamten Kirche festzuhaltende Lehre über den Glauben oder die Sitten definiert – so besitzt er auf Grund des göttlichen, im heiligen Petrus ihm verheißenen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition von Glaubens- und Sittenlehren ausgestattet wissen wollte.“

Gegen diese Lehrentscheidung erhob sich vor allem in Deutschland heftiger Protest. Führer des Protestes war der Münchener Professor für Kirchenrecht und Kirchengeschichte Ignaz von Döllinger. Auf Vorträgen und Konferenzen legte er dar, dass diese Konzilsentscheidung im Widerspruch zur Tradition der Alten Kirche stünde. Schließlich wurde Döllinger und wurden mit ihm all diejenigen, die Protesterklärungen gegen die Konzilsentscheidungen unterschrieben hatten, von den römisch-katholischen Bischöfen exkommuniziert. Die Betroffenen – es handelte sich um viele Tausend – erkannten diese Exkommunikation nicht an und versammelten sich auf Alt-Katholiken-Kongressen. Unterstützung fanden sie dabei von Seiten der anglikanischen Kirche und auch von Seiten orthodoxer Theologen. Auf dem Alt-Katholiken-Kongress in Köln beschloss man 1872 die Bildung eines eigenen Katholischen Bistums, das von einem Bischof geleitet werden sollte. Geweiht wurde der erste Bischof der alt-katholischen Kirche von einem Bischof der Kirche von Utrecht, einer Diözese, die bereits seit dem 18. Jahrhundert mit der römisch-katholischen Kirche gebrochen hatte und seitdem als eigenständige katholische Diözese existierte. Durch diese Bischofsweihe stehen die Bischöfe der alt-katholischen Kirche nach eigenem Verständnis weiterhin in der sogenannten „apostolischen Sukzession“, der ununterbrochenen Weitergabe des Bischofsamtes durch andere Bischöfe seit den Tagen der Apostel. Der erste Bischof der alt-katholischen Kirche hieß Joseph Hubert Reinkens; er wurde 1873 geweiht und leitete auch die erste alt-katholische Synode in Bonn 1874, auf der die nach altkirchlichen Grundsätzen entworfene Kirchenverfassung der alt-katholischen Kirche verabschiedet wurde. Die alt-katholische Kirche wurde von staatlicher Seite schnell anerkannt; es war die Zeit der Auseinandersetzung Bismarcks mit der römisch-katholischen Kirche. In dieser Zeit fand eine katholische Kirche, die sich von Rom losgelöst hatte, natürlich das besondere Wohlwollen des Staates.

Bald vollzog die alt-katholische Kirche eine Reihe von Reformen: Der Zwangszölibat der Priester wurde ebenso abgeschafft wie das Ablasswesen oder der Zwang zur Einzelbeichte; der Gottesdienst wurde in der Landessprache gefeiert und die Kommunion unter beiderlei Gestalt – Brot und Wein – an die Gemeinde ausgeteilt.
Ein besonderes Anliegen war der alt-katholischen Kirche von Beginn an die Ökumene. Während alt-katholische Kirchen (in der Schweiz christ-katholisch genannt) zunächst im Wesentlichen nur in Mitteleuropa entstanden (sie sind in der sogenannten „Utrechter Union der Altkatholischen Kirchen“ zusammengeschlossen), nahm die alt-katholische Kirche schnell Kontakt mit anderen katholischen Kirchen auf, die sich von Rom getrennt hatten. Besondere Kontakte wurden zur anglikanischen Kirche gepflegt; 1931 wurde im „Bonner Abkommen“ die Kirchengemeinschaft zwischen alt-katholischer und anglikanischer Kirche erklärt. Intensive Gespräche wurden auch mit den orthodoxen Kirchen gepflegt. So strich die alt-katholische Kirche die spätere Einfügung, dass der Heilige Geist vom Vater „und dem Sohne“ (filioque) ausgeht, aus ihrer Textfassung des Nizänischen Glaubensbekenntnisses und kehrte damit zur ursprünglichen Textfassung der orthodoxen Kirche zurück. Annäherungen ergaben sich auch dadurch, dass die alt-katholische Kirche die sieben ökumenischen Konzile der Alten Kirche, die für die orthodoxen Kirchen von besonderer Bedeutung sind, als verbindlich anerkannte – und zwar nur sie, nicht die späteren Konzile der „Westkirche“.

In vielerlei Hinsicht gibt es interessante formale und inhaltliche Parallelen zwischen der alt-katholischen Kirche und unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche mit ihren Vorgängerkirchen, darunter der alt-lutherischen Kirche: Diese Parallelen betreffen nicht allein die Entstehungszeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – wobei die Väter und Mütter der freien lutherischen Kirchen vom Staat im Unterschied zur alt-katholischen Kirche gerade nicht gefördert, sondern verfolgt wurden –, sondern auch das Selbstverständnis der Kirchen: Beide haben nicht aus freien Stücken eine eigene Kirche gegründet, sondern wurden aus der bestehenden Kirche herausgedrängt; dabei hielten sie jedoch daran fest, dass sie den Glauben der Kirche, aus der sie herausgedrängt worden waren – also theologisch gesprochen: den Glauben der katholischen Kirche - festgehalten hatten. Auch die Kirchenverfassung, in der die bischöfliche Leitung der Kirche mit der Mitwirkung der Laien und Gemeinden verbunden wurde, und die liturgische Gestaltung der Gottesdienste weist viele Parallelen auf. Auch in den oben erwähnten vollzogenen Reformen und in der Kritik an den Entscheidungen des I. Vatikanischen Konzils sind sich die alt-katholische und die lutherische Kirche einig – wie natürlich auch in der Anerkennung der altkirchlichen Konzilsentscheide.

Dennoch bleiben die Unterschiede zwischen der alt-katholischen Kirche und unserer Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche unverkennbar: Diese liegen zunächst einmal darin begründet, dass sich der Widerspruch der alt-katholischen Kirche gegen die römisch-katholische Kirche zunächst allein an der Frage des Papstamtes entzündete. In der für die lutherische Reformation zentralen Frage der Rechtfertigung des Sünders vor Gott vertritt die alt-katholische Kirche dagegen grundsätzlich die Position der römisch-katholischen Kirche. Ähnliches gilt für die Stellung der Heiligen Schrift: „Die Kirche steht in der Auslegung über der Heiligen Schrift, nicht die Heilige Schrift über der Kirche“ erklärte die alt-katholische Kirche 1966. Das Verhältnis von Heiliger Schrift und kirchlicher Tradition wird also ähnlich wie in der römisch-katholischen Kirche gesehen, nur dass die kirchliche Tradition eher auf die alte Kirche beschränkt wird bzw. auf einen angenommenen Konsens all dessen, was zu allen Zeiten an allen Orten von allen gelehrt worden ist.

In den letzten Jahrzehnten hat sich andererseits die alt-katholische Kirche in ihren Positionen deutlich auf die Evangelische Kirche in Deutschland zubewegt. Seit 1985 praktiziert sie mit dieser die Interkommunion, das heißt eine gegenseitige Einladung und Zulassung zum Altarsakrament. Die alt-katholische Kirche relativierte mit dieser Entscheidung die Bedeutung der „apostolischen Sukzession“: Auch Sakramentsfeiern in Kirchen, in denen die Ordination nur als eine menschliche Ordnung angesehen wird und in denen die apostolische Sukzession keine Rolle spielt, werden als gültig anerkannt. Zugleich praktiziert die alt-katholische Kirche damit Interkommunion mit reformierten Kirchen, in denen die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Sakrament – wenn überhaupt – vom Glauben der Kommunikanten abhängig gemacht wird. Mittlerweile gibt es sogar Tendenzen in der alt-katholischen Kirche, die Teilnahme an der Kommunion grundsätzlich für „alle Menschen“ zu öffnen.

Mit der Hinwendung zum Protestantismus, wie sie auch in der Einführung der Frauenordination zum Ausdruck kommt, hat sich die alt-katholische Kirche zugleich immer weiter von den orthodoxen Kirchen entfernt; dies ist insofern besonders bedauerlich, als die alt-katholische Kirche hier eine wichtige ökumenische Brückenfunktion in vergangenen Jahrzehnten wahrgenommen hatte. Aus der Geschichte verständlich, aber nicht unproblematisch ist, dass sich die alt-katholische Kirche immer wieder sehr deutlich aus der Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche definiert und sich von daher auch immer wieder in ihren Entscheidungen bestimmen lässt. Gerade dies führt sie mit ihren Positionen dann aber beinahe zwangsläufig in die Nähe des Protestantismus.

Zahlenmäßig ist die alt-katholische Kirche in Deutschland eine sehr kleine Kirche: Mit etwa 15.000 Gliedern in 55 Pfarrgemeinden ist sie weniger als halb so groß wie unsere Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche. Der Stellvertreter des amtierenden Bischofs Joachim Vobbe, Generalvikar Werner Luttermann, wird gerade jetzt am 11. Oktober als neuer Pfarrer der Berliner Gemeinde der Alt-Katholiken und als Beauftragter seiner Kirche am Sitz der Bundesregierung eingeführt werden. Im November dieses Jahres wird die Bistumssynode der deutschen Alt-Katholiken einen Nachfolger von Bischof Vobbe wählen, der im März 2010 geweiht werden soll.