10. Die Evangelischen Freikirchen

Schon ihr Name „Freikirche“ lässt erkennen, dass die evangelischen Freikirchen sich von ihrer Entstehung her und in unterschiedlichem Maße auch heute noch im Gegenüber zu bestehenden Volks- und Staatskirchen verstehen: Die freiwillige Entscheidung des einzelnen Gläubigen, ihrer kirchlichen Gemeinschaft beizutreten, und eine Existenzform, in der man unabhängig sein will von jeglicher staatlicher Anbindung, etwa auch vom Kirchensteuereinzug, und in der die Einzelgemeinde relativ frei bleibt im Gegenüber zu den übergemeindlichen Strukturen der jeweiligen kirchlichen Gemeinschaft, sind wichtige Anliegen und Kennzeichen dieser Gruppierungen.
Zu den kirchlichen Gemeinschaften, die sich in der „Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen haben, gehören die Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland, der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, der Bund Freier evangelischer Gemeinden in Deutschland, der Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden, die Evangelisch-methodistische Kirche, die Heilsarmee in Deutschland, die Kirche des Nazareners, der Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden und die Gemeinde Gottes e.V. Schon die Namen (Arbeitsgemeinschaft, Bund, Verband) deuten auf das Kirchenverständnis der meisten Mitgliedsgemeinschaften hin, die sich selber zumeist nur als organisatorischer Zusammenschluss von Einzelgemeinden verstehen.
Ihre geschichtlichen Wurzeln haben die Freikirchen zum Teil in der Reformationszeit, zum Teil in Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Bereits Mitte der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts entstand in der Schweiz und in Deutschland die Täuferbewegung, die die Taufe von Säuglingen verwarf und die Wiedertaufe praktizierte – worauf damals reichsrechtlich die Todesstrafe stand und auch durchgeführt wurde. Zu den führenden Köpfen der zweiten Generation der Täuferbewegung zählte Menno Simons, der aus Friesland stammte und ursprünglich römisch-katholischer Priester gewesen war. Er sammelte die „Taufgesinnten“ im ganzen norddeutschen Raum und war auch schriftstellerisch tätig. Neben der Wiedertaufe war ihm und denen, die ihm folgten, die Gewaltlosigkeit, die Verweigerung von Eid und Kriegsdienst, ein wichtiges Anliegen. Seine Anhänger, bald „Mennoniten“ genannt, fanden in der Folgezeit Aufnahme in den Niederlanden, wo sie seit 1578 geduldet waren, und auch in Deutschland bei manchen toleranten Landesfürsten. Dennoch kam es immer wieder auch zu größeren Auswanderungsbewegungen, aufgrund derer sich die Mennoniten in Russland und der Ukraine und in den USA ansiedelten. So haben auch viele russlanddeutschen Aussiedler, die nach Deutschland zurückgekehrt sind, ursprünglich einen mennonitischen Hintergrund.
Die Baptistengemeinden, die sich in Deutschland im Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (nicht zu verwechseln mit dem Bund Freier evangelischer Gemeinden!) zusammengeschlossen haben, haben ihre geschichtlichen Wurzeln im englischen Puritanismus: Ende des 16. Jahrhunderts kam es in England unter dem Einfluss calvinistischen Gedankenguts zur Bildung unabhängiger Gemeinden, in denen bald auch die Wiedertaufe praktiziert wurde. Bald schon wurden sie deswegen „Baptists“, „Täufer“, genannt. Ihr Anliegen war, das Gemeindeleben genauso zu praktizieren, wie sie es vom Neuen Testament her zu erkennen meinten. Viele von ihnen emigrierten nach Amerika, wo die baptistischen Gemeinschaften heutzutage zu den größten kirchlichen Gruppierungen insgesamt zählen. In Deutschland verdankt der Baptismus seine Entstehung und erste Ausbreitung vor allem der Wirksamkeit von Johann Gerhard Oncken, der Anfang des 19. Jahrhunderts das freikirchliche Gemeindeleben in England und Schottland kennengelernt hatte. 1834 ließ sich Oncken zusammen mit sechs anderen Personen in Hamburg in der Elbe wiedertaufen und gründete am nächsten Tag die erste baptistische Gemeinde in Deutschland. Ein besonderes Anliegen war Oncken die Mission sowohl im eigenen Land als auch in anderen Ländern. Die von Oncken initiierte Bewegung breitete sich in Deutschland und darüber hinaus in Europa schnell aus. 1941 schlossen sich in Deutschland dem Bund der baptistischen Gemeinden weitere täuferisch gesinnte freikirchliche Gruppierungen an, darunter die auf das Wirken des Wuppertalers Carl Brockhaus zurückgehenden Brüdergemeinden, die noch strikter als die Baptisten alle übergemeindlichen Organisationen ablehnten. Seit dieser Zeit trägt der Zusammenschluss den Namen „Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden“.
Die Freien evangelischen Gemeinden haben ihre Wurzeln in einer Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Ihre besonderen Anliegen sind die persönliche Frömmigkeit des einzelnen Gemeindegliedes, die lehrmäßig nicht eingeengt zu werden braucht,  und die Unabhängigkeit der einzelnen Gemeinden, die sich ganz am neutestamentlichen Vorbild auszurichten haben. Die Freien evangelischen Gemeinden praktizieren keine Taufe von Säuglingen; im Unterschied zu den baptistischen Gemeinden nehmen sie jedoch auch Gemeindeglieder auf, die sich gewissensmäßig an ihre Kindertaufe gebunden wissen und darum eine erneute Taufe ablehnen.
Die Evangelisch-methodistische Kirche geht auf das Wirken der Brüder John und Charles Wesley in England im 18. Jahrhundert zurück: Beide hatten im Mai 1738 ein Bekehrungserlebnis, das John Wesley dazu veranlasste, fortan unermüdlich Evangelisationsreisen in England zu unternehmen, aus denen eine große methodistische Bewegung entstand. Der Name „Methodisten“ war übrigens ursprünglich ein Spottname, der auf das besondere Streben der Bewegung nach der Heiligung ihrer Mitglieder anspielte. Im Unterschied zu anderen Freikirchen hat der Methodismus niemals grundsätzlich mit der anglikanischen Staatskirche gebrochen und im Gegenteil auch innerhalb der Staatskirche eine evangelikale Richtung entstehen lassen, die bis heute besteht. Besonderes Anliegen des Methodismus war stets die Rettung verlorener Menschen unter Heranziehung berufener Laien zu aktiver Mitarbeit. Herz der methodistischen Lehre ist John Wesley zufolge die Lehre von der christlichen Vollkommenheit: Ein wahrhaft gläubiger Mensch ist kein Sünder mehr, sondern hat die Sünde hinter sich gelassen. Es ist interessant wahrzunehmen, dass die Evangelisch-methodistische Kirche vor einigen Jahren vor einigen Jahren die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, die von der römisch-katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund unterzeichnet worden war, ebenfalls unterzeichnet hat, da sie in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders der römisch-katholischen Kirche in vielem sehr nahe steht, was etwa die Mitwirkung des Menschen, die Bedeutung der Heiligung oder die Ablehnung der Lehre, dass der Mensch gerecht und Sünder zugleich ist, betrifft. Im Unterschied zu anderen Freikirchen hat die Evangelisch-methodistische Kirche eine stärker ausgeprägte kirchliche Struktur mit bischöflicher Leitung; in Deutschland wird sie geleitet von Bischöfin Rosemarie Wenner, die seit Mai 2008 auch der Vereinigung Evangelischer Freikirchen vorsteht. Auch praktiziert die methodistische Kirche im Unterschied zu anderen Freikirchen die Kindertaufe, der aber später ein öffentliches Bekenntnis folgen muss.
Aus dem Methodismus entwickelt hat sich schließlich auch die Heilsarmee, Sie hat die Anliegen des Methodismus von Bekehrung und Heiligung in noch radikalerer Form aufgenommen; sie praktiziert weder die Taufe noch die Feier des Heiligen Abendmahls und ist bekannt für ihre dem Militär entsprechende Organisation und ihre vielfältige karitative Arbeit.
Aus lutherischer Sicht anerkennen muss man bei den Evangelischen Freikirchen ihre Wertschätzung der Heiligen Schrift, die Zentrierung ihrer Verkündigung auf das Heilswerk Christi sowie ihr vielfältiges missionarisches und diakonisches Engagement. Hier leisten auch theologisch in vielem sehr fragwürdige Gruppierungen wie etwa die Heilsarmee Bedeutendes aus ihrem Glauben an Christus heraus, das wir nur mit Respekt zur Kenntnis nehmen können.
Dennoch stehen die Evangelischen Freikirchen der lutherischen Kirche in vielerlei Hinsicht eher fern: Dies hängt damit zusammen, dass sie in ihren Ursprüngen alle miteinander stark reformiert geprägt sind. Dies wirkt sich aus in ihrem Verständnis der Sakramente, nicht zuletzt auch des Heiligen Abendmahls, und auch in der Gestaltung ihrer Gottesdienste. Grundsätzlich legen die Freikirchen besonderen Wert auf die Mitwirkung des Menschen in seiner Bekehrung und Rechtfertigung: Der Mensch ist dazu in der Lage, sich in freier Entscheidung Christus zuzuwenden. Von daher reicht es nicht aus, dass dem Menschen das Heil einfach geschenkt wird; auch er muss in diesem Geschehen seinen Beitrag durch seine Entscheidung und auch später im Prozess seiner Heiligung leisten. Ausdruck dieses ganz anderen Verständnisses der Rettung des Menschen ist das Taufverständnis der meisten Freikirchen: Da ein Säugling keine bewusste Entscheidung fällen kann, darf er noch nicht getauft werden; die Gültigkeit einer Taufe hängt am Bewusstsein und Verstehen dessen, der getauft wird. Mit der Praxis der Wiedertaufe stellen sich die meisten Freikirchen außerhalb des ökumenischen Konsenses der Christenheit; sie haben darum im Jahr 2007 auch nicht die Magdeburger Erklärung mit unterschrieben, in der die verschiedenen Kirchen in Deutschland gegenseitig die in den anderen Kirchen praktizierte Taufe anerkennen.
Da für die Evangelischen Freikirchen lediglich die Gläubigkeit des Einzelnen, nicht jedoch eine verbindliche Lehre einer kirchlichen Gemeinschaft von Bedeutung ist, gibt es in ihnen – abgesehen von der Betonung der persönlichen Frömmigkeit – sehr unterschiedliche theologische Ausrichtungen: So hat sich die Evangelisch-methodistische Kirche, ähnlich wie in den USA, in Deutschland immer stärker der Evangelischen Landeskirche angenähert und steht mit ihr in Kirchengemeinschaft. Auch die Baptisten nähern sich theologisch immer stärker der Evangelischen Landeskirche an; in mancherlei Hinsicht ist die Ablehnung der Kindertaufe ihr einziger verbleibender Identitätsmarker. Die Mennoniten legen in Deutschland ohnehin seit langem ihre Schwerpunkte im friedenspolitischen Engagement. Gegen diese Entwicklungen gibt es in nicht wenigen Gemeinden der einzelnen Freikirchen jedoch starke Widerstände; besondere Konflikte brachen in den vergangenen Jahren mit russlanddeutschen Aussiedlern auf, die sich in die deutschen Mennoniten- und Baptistengemeinden zumeist nicht integrieren ließen und eigene, sehr konservativ geprägte Gemeinden gründeten. Auch einheimische „bibeltreue“ freikirchlich geprägte Christen finden ihre geistliche Heimat zunehmend in unabhängigen freien Gemeinden, die den liberaleren Kurs der klassischen Freikirchen ablehnen.