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Vom Amt der Schlüssel und von der Beichte (2).

Vom Amt der Schlüssel und von der Beichte (2).

 

Was ist die Beichte?
Die Beichte begreift zwei Stücke in sich:
eins, daß man die Sünden bekenne,
das andre, daß man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger empfange
als von Gott selbst
und ja nicht daran zweifle, sondern fest glaube,
die Sünden seien dadurch vergeben vor Gott im Himmel.

Am 28. Juli 1698 versammelte sich am Grab des Pfarrers Johann Caspar Schade, der an diesem Tag dort beigesetzt worden war, eine größere Menschenmenge und bewarf den Grabhügel unter wüsten Schmähreden mit Steinen. Was hatte der Verstorbene, der als Pfarrer an der damals noch lutherischen St. Nikolaikirche in der Mitte Berlins gewirkt hatte, getan, daß die Bevölkerung mit solcher Heftigkeit auf sein Ableben reagierte? Ganz einfach: Er hatte versucht, die Beichtstühle aus seiner Kirche zu entfernen und die Einzelbeichte durch eine allgemeine Beichte zu ersetzen. Der Anlaß hierzu war in gewisser Weise verständlich: Bis zu sieben Stunden saß er jeden Samstag in seinem Beichtstuhl, hörte im Fünfminutentakt die Sündenbekenntnisse und spendete die Absolution, hatte kaum Zeit, auf den einzelnen Beichtenden persönlich einzugehen oder sich auch nur zu vergewissern, ob er es im Einzelfall überhaupt verantworten konnte, die Absolution auszusprechen – und dies, obwohl neben ihm noch drei andere Pfarrer an St. Nikolai ihren Dienst versahen und ebenfalls am Samstagnachmittag die Beichte hörten. Diesen Andrang konnte und wollte Schade auf die Dauer nicht bewältigen, und so setzte er sich schließlich sogar mit sehr heftigen Worten für die Abschaffung der Beichtstühle in seiner Kirche ein. Doch damit stieß er auf heftigen Widerstand in seiner eigenen Gemeinde: Den Trost der im Beichtstuhl persönlich zugesprochenen Absolution wollten sich die Gemeindeglieder durch nichts und niemanden nehmen lassen. Schade setzte sich schließlich praktisch durch – nicht zuletzt auch weil er auf das Wohlwollen seines calvinistisch gesinnten Kurfürsten rechnen konnte. Was in Berlin Ende des 17. Jahrhunderts begann, wurde in den lutherischen Kirchen Deutschlands im 18. Jahrhundert immer weiter gängige Praxis: Die Einzelbeichte wurde durch einen allgemeinen Beichtgottesdienst ersetzt, um so dem Massenandrang auf die Beichte begegnen zu können.

Wie aus einer anderen Welt mögen uns solche Berichte über die Beichtpraxis in der lutherischen Kirche Berlins vor 300 Jahren erscheinen. Sie erinnern uns aber daran, daß in der lutherischen Kirche in Deutschland seit der Reformation oftmals weit mehr als 200 Jahre lang die Einzelbeichte – zumeist in extra dafür angefertigten Beichtstühlen – selbstverständliche Praxis in den Gemeinden war, die von den Gemeindegliedern selber um des Zuspruchs der Vergebung willen zumeist sehr geliebt und geschätzt wurde. Und die Berichte zeigen zugleich auch, wie schnell in der Kirche eine Praxis abgeschafft werden kann und wie schwer und langwierig es umgekehrt ist, solch eine abgeschaffte Praxis später wieder einzuführen. Ganz abgeschafft wurde die Einzelbeichte aber auch in den lutherischen Gemeinden Preußens nie: Als sich nach der Einführung der preußischen Union im Jahr 1830 fünf Jahre später am 21. Juni 1835 hier in Berlin wieder eine lutherische Gemeinde konstituierte und ihren ersten Gottesdienst in einer Privatwohnung feierte, da standen ab morgens um 4 Uhr (!) die Gemeindeglieder für die Einzelbeichte Schlange, bevor dann schließlich um 7.30 Uhr der Sakramentsgottesdienst begann. Dennoch setzte sich auch in den freien lutherischen Kirchen die „allgemeine“ Beichte als Normalform der Beichte durch, auch wenn die Praxis der Einzelbeichte stets bekannt und im Bewußtsein blieb. In vielen Fällen blieb sie jedoch praktisch beschränkt auf eine „Zwangs-Einzelbeichte“ am Tag vor der Konfirmation.

In unserer Gemeinde gibt es diese „Zwangs-Einzelbeichte“ am Tag vor der Konfirmation nicht mehr. Statt dessen führe ich mit jedem Konfirmanden auf der Abschlußfreizeit vor der Konfirmation ein geistliches Gespräch in der Sakristei, bei dem auch die Möglichkeit zur Einzelbeichte besteht. Nicht wenige Konfirmanden machen von diesem Angebot dann auch freiwillig Gebrauch. Nichts soll jedoch den Anschein erwecken, als ginge es bei der Einzelbeichte um einen „Zwang“, um eine fromme Leistung, um ein gutes Werk, das man ableisten muß. Schließlich geht es in der Beichte um nicht weniger als um den Kern des Evangeliums, um den Zuspruch der Vergebung Gottes, die auch im Jüngsten Gericht ihre Bedeutung behalten wird.

Eben weil es in der Beichte um nicht weniger als um das Evangelium geht, wird in unserer Gemeinde die Beichte in ihren verschiedenen Formen reichlich angeboten. Dazu zählt ganz bewußt auch das regelmäßige Angebot der Einzelbeichte in der Sakristei. Es ist eine gute und hilfreiche Praxis für uns Christen, uns nicht bloß mit der allgemeinen Erkenntnis zufriedenzugeben, daß wir nun mal „alle Sünder“ sind, sondern uns regelmäßig auch ganz konkret über unser Leben und unsere Schuld vor Gott Gedanken zu machen. Dies, was uns an Schuld belastet, dann auch vor Gott in der Einzelbeichte ganz direkt auszusprechen, kann dabei eine wichtige Hilfe sein. Eben dies erfahren diejenigen auch immer wieder, die von diesem Angebot der Einzelbeichte in unserer Gemeinde Gebrauch machen. Wichtig ist dabei zweierlei: Zum einen, daß das Sündenbekenntnis nicht „vor dem Pastor“ (der im übrigen in der Sakristei auch hinter dem Beichtenden, der vor dem Altar kniet, steht), sondern vor Gott ausgesprochen wird, und zum anderen, daß das Entscheidende in der Beichte immer das Zweite, die Vergebung Gottes, bleibt. Um dieser Vergebung willen kommen wir zur Beichte, nicht, um unser Sündenbekenntnis als ein gutes Werk darzubieten. Natürlich ist der Pastor Zeuge bei dem Sündenbekenntnis. Doch bei seiner Ordination hat er versprochen, das Beichtsiegel unverbrüchlich zu wahren. Das heißt: Was er in der Beichte hört, das darf er um seines Amtes willen niemandem weitersagen: nicht seiner Ehefrau, wenn er verheiratet ist, nicht seinen Amtsbrüdern, auch nicht der Polizei. Er darf noch nicht einmal bestätigen, ob jemand bei ihm in der Beichte war. Ja, er darf auch denjenigen oder diejenige, deren Beichte er gehört hat, selber nicht mehr auf diese Beichte ansprechen – etwa bei einem Gemeindebesuch. Was in der Einzelbeichte ausgesprochen wird, das wird „ins Grab“ gesprochen. Hilfreich und wichtig ist es dabei natürlich für den, der als Pastor die Beichte hört, daß er selber auch die Einzelbeichte praktiziert und selber vom Segen der persönlich zugesprochenen Vergebung in der Einzelbeichte weiß. Am Ende einer Einzelbeichte kann, wenn es sich von der Sache her nahelegt, der Pastor dem Beichtenden einen Beichtrat mitgeben. In vielen Fällen ergibt sich dieser angesichts dessen, was in der Beichte vorgebracht wurde, von selbst. Mitunter kann es jedoch eine Hilfe sein, wenn ein solcher Beichtrat ausdrücklich noch einmal ausgesprochen wird. Selbstverständlich hängt jedoch die Vergebung nicht von der Befolgung dieses Beichtrates ab.

Daß die Einzelbeichte in der lutherischen Kirche eine segensreiche Einrichtung ist und bleibt, bedeutet nicht, daß die Vergebung, die im Beichtgottesdienst am Altar dem Einzelnen auf den Kopf zugesprochen wird, weniger gültig oder wirksam wäre als die Absolution in der Einzelbeichte. Daß das Sündenbekenntnis des Einzelnen in der Beichtandacht in der Stille vor Gott gebracht und „nur“ in der Form des Allgemeinen Beichtgebets gemeinsam laut ausgesprochen wird, ändert nichts an der sakramentalen Kraft des Vergebungswortes. Was dies aber bedeutet, daß die Stimme des Pastors im Wort der Vergebung in der Beichte nicht weniger als ein Instrument Gottes ist, durch das er schon hier und jetzt sein Urteil im Jüngsten Gericht verkündigt, das kann gar nicht oft und deutlich genug herausgestellt werden. Auch in unserer lutherischen Bekenntniskirche besteht die große Gefahr, daß wir gerade auch bei den Beichtgottesdiensten anfangen zu „sparen“: Sei es, daß in den Gemeinden die Zahl der Beichtgottesdienste insgesamt reduziert wird oder nur noch eine „Kurzbeichte“ an den Beginn des Hauptgottesdienstes gesetzt wird – womöglich noch ohne Zuspruch der Sündenvergebung unter Handauflegung – oder sei es, daß nicht wenige Glieder auch unserer Gemeinde meinen, weitestgehend ohne Beichtandacht und den Empfang der Absolution leben zu können, um auf diese Weise eine zusätzliche halbe Stunde am Sonntagmorgen zu „gewinnen“. Nicht selten wird dabei darauf verwiesen, im Heiligen Abendmahl empfinge man doch ohnehin die Vergebung der Sünden, wozu bräuchte man da noch die Beichte. Doch nicht umsonst heißt es in unserem lutherischen Bekenntnis: „Auch bei uns ist es üblich, keinem das Sakrament zu reichen, der nicht vorher befragt und absolviert worden ist.“ (Augsburger Bekenntnis, Artikel XXV,1) Die Beichtandacht ist eine entscheidend wichtige Hilfe, sich auf die eigene Schuld zu besinnen, die den Empfang der Sündenvergebung so dringend nötig macht. Vor allem aber tun wir nicht gut daran, Christus selber zu schulmeistern, der doch selber das Sakrament der Sündenvergebung gestiftet hat. Wenn er uns seine Vergebung so reichlich austeilen will – wie sollten wir da meinen, wir könnten seine Zuwendung zu uns nach unseren Wünschen und Bedürfnissen einschränken? Gewiß gibt es auch hier keinen Beichtzwang, daß es verboten wäre, ohne den vorherigen Empfang der Absolution das Heilige Abendmahl zu empfangen. Wir müssen nicht unbedingt vor jedem Sakramentsgang jedesmal zuvor zur Beichte gegangen sein. Dies würde die Beichte auch nur allzu leicht zu einer Art von „Vorwaschgang“ vor dem Altarsakrament werden lassen, was sie nie und nimmer werden darf. Die Beichte ist ein eigenständiges Sakrament. Eben darum kann man auch einmal nur an der Beichte und nicht am Altarsakrament teilnehmen, wie dies ja etwa auch die Kinder tun, die noch nicht die Erstkommunion empfangen haben. Auch feiern wir beispielsweise am Karfreitag ja „nur“ einen Beichtgottesdienst mit persönlicher Absolution und ohne Kommunion. Wer aber fast grundsätzlich meint, auf den Empfang der persönlichen Absolution in der Beichte verzichten zu können, der sollte sich doch noch einmal neu nach seinen Motiven fragen – und nicht zuletzt auch danach, ob er oder sie überhaupt schon verstanden hat, was Luthers Kleiner Katechismus sagt:  „daß man die Vergebung vom Beichtiger empfange als von Gott selbst“. Wer will und wer kann sich das eigentlich entgehen lassen?