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Das Vaterunser: Anrede und Erste Bitte.

Das Vaterunser: Anrede und Erste Bitte.

 

DIE ANREDE
Vater unser im Himmel.

Was ist das?
Gott will uns damit locken, daß wir glauben sollen,
er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder,
auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen
wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.
 

DIE ERSTE BITTE
Geheiligt werde dein Name.

Was ist das?
Gottes Name ist zwar an sich selbst heilig;
aber wir bitten in diesem Gebet, daß er auch bei uns heilig werde.

Wie geschieht das?
Wo das Wort Gottes lauter und rein gelehrt wird
und wir auch heilig, als die Kinder Gottes, danach leben.
Dazu hilf uns, lieber Vater im Himmel!
Wer aber anders lehrt und lebt, als das Wort Gottes lehrt,
der entheiligt unter uns den Namen Gottes.
Davor behüte uns, himmlischer Vater!


Das Gebet, das Gespräch mit Gott, ist gleichsam das „Atmen des Glaubens“. Als solches gehört es zu den elementaren Grundlagen und Lebensäußerungen des Glaubens, die ein jeder Christ kennen sollte.  Auf der einen Seite sollte das Gebet für einen Christen, der in einer lebendigen Beziehung zu seinem Vater lebt, so selbstverständlich sein, daß man darüber gar nicht viele Worte zu verlieren braucht. Auf der anderen Seite bedürfen wir als Christen doch immer wieder eine Ermutigung und Anleitung zum Gebet. Eben dies will Martin Luther mit seinem Katechismus leisten.

Der Kleine Katechismus befaßt sich mit dem Vaterunser, dem grundlegendsten und wichtigsten Gebet des christlichen Glaubens überhaupt. Christus selbst hat seine Jünger in der Bergpredigt dazu angeleitet, mit diesen Worten zu Gott zu beten (vgl. Matthäus 6,9-13). Der abschließende Lobpreis „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“ war schon seit Ende des 1. Jahrhunderts die Antwort der Gemeinde auf das Vaterunser, gehört aber nicht zum ursprünglichen biblischen Text dazu. Darum legt Luther diese sogenannte „Doxologie“ auch nicht in seinem Katechismus aus.

Als Gebet, das uns von Christus gegeben ist, ist das Vaterunser für unser Beten in vielfacher Hinsicht hilfreich: Es bewahrt uns davor, im Gebet immer nur um uns selbst und unsere eigene Befindlichkeit zu kreisen. Es öffnet uns die Augen dafür, was eigentlich unsere Not ist, für die wir Hilfe nötig haben, und es zeigt uns, was für uns wirklich wichtig ist. Eben darum sind den vier „Unser“-Bitten die drei „Dein“-Bitten vorgeordnet: Gottes Tun und Handeln ist allemal wichtiger als unser menschliches Tun und unsere menschlichen Wünsche – und zwar wichtiger für uns! Das Vaterunser ist so gleichsam eine Norm für unser Gebet; es leitet uns dazu an, wie wir in der rechten Weise zu Gott, unserem Vater, sprechen und worum wir ihn bitten sollen. Insofern ist das Vaterunser zugleich auch eine Hilfe für unser eigenes, freies Beten: Es ist durchaus so angelegt, daß wir nach jeder einzelnen Bitte innehalten und sie mit dem, was uns persönlich betrifft, noch einmal mit eigenen Worten füllen. So können wir das Vaterunser Schritt für Schritt durchmeditieren. Dabei wird es zugleich immer wieder noch einen besonderen und jeweils auch unterschiedlichen Klang bekommen. Dies erleben wir ja auch bei der Verwendung des Vaterunsers im Gottesdienst: Wenn wir das Vaterunser bei einer Taufe sprechen und damit das Kommen des Reiches Gottes und die Erlösung von dem Bösen für den Täufling erflehen, dann hat das Vaterunser noch einmal eine ganz andere „Füllung“, als wenn wir es bei der Feier des Heiligen Abendmahls beten und um das Kommen des Reiches Gottes im Altarsakrament, um die Gabe des Leibes und Blutes Christi als tägliches Brot des Christen und um die Vergebung unserer Schuld durch diese Gabe bitten. Insofern stellt das zweifache Gebet des Vaterunsers im Gottesdienst keine „Doppelung“ dar, die etwa gekürzt werden könnte.

Wir beten das Vaterunser, weil Christus selber es so geboten und mit ihm die Verheißung der Erhörung verbunden hat. „Darum sollt ihr so beten“, sagt Christus in Matthäus 6,9. Dieses „sollt“ gründet letztlich wiederum, so macht es Martin Luther deutlich, in dem 2. Gebot: Es geht darum, daß durch das Gebet, insbesondere das Gebet des Vaterunsers, Gottes Name in der rechten Weise gebraucht wird. Gerade wenn wir dann jedoch auch tun, was Gott geboten hat, dürfen wir wissen, daß Gott solches Beten recht ist und er auch tun wird, worum wir ihn bitten. In dieser fröhlichen Gewißheit dürfen wir das Vaterunser immer wieder sprechen.

Daß wir Gott als „Vater“ anreden dürfen, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Gabe und Wirkung der Heiligen Taufe. Darum wurde den Taufbewerbern in der Alten Kirche das Vaterunser erst unmittelbar vor ihrer Taufe mitgeteilt. Da die Ungetauften vor der Sakramentsfeier bereits die Kirche verlassen mußten, hatten sie es zuvor tatsächlich auch noch nie gehört. Das Vaterunser läßt sich also nicht einfach zu den „schönsten Gebeten der Weltreligionen“ einordnen, geschweige denn, daß wir dieses Gebet einfach mit Angehörigen anderer Religionen gemeinsam sprechen könnten. Im Vaterunser spiegelt sich eben nicht einfach das weltumarmende Pathos eines Friedrich Schiller wider: „Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen.“

Die Anrede „Abba“, „Papi“, an Gott, die Jesus selber in seinen Gebeten verwendete, war zu seiner Zeit ganz und gar unüblich und brachte etwas von der einzigartigen Verbindung Jesu zu seinem Vater im Himmel zum Ausdruck. Mit dem Vaterunser gibt uns Jesus selber Anteil an seiner Sohnesstellung, an seiner Beziehung zum Vater: Wir dürfen zu Gott reden wie er selber auch. Dies können und dürfen wir nicht aus uns selber heraus. Vielmehr haben wir in der Taufe „einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater. Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.“ (Römer 8,15+16) Daß es ein ungeheures Privileg ist, daß wir Gott „Vater“ nennen dürfen, sollten wir im Gebet nie vergessen. Es ist zugleich eine große Ermutigung: Wir sprechen im Gebet nicht mit einer fernen Macht, nicht mit einem Automaten, sondern wir dürfen Gott bitten „wie die lieben Kinder ihren lieben Vater“. In diesem Vertrauen dürfen mit dem Vaterunser Gott tatsächlich alles vortragen und vorlegen, was uns bewegt.

Dieser Vater ist „unser Vater“. Das heißt: Wir beten das Vaterunser niemals allein, sondern immer in der Gemeinschaft der ganzen Kirche. Daß wir im Gebet des Vaterunsers immer von der ganzen Christenheit umgeben sind und zugleich immer auch für sie beten, sollten wir niemals vergessen. Es ist gut, daß im Vaterunser nirgendwo das Wort „Ich“ erscheint.

Dieser Vater, zu dem wir beten, ist „im Himmel“. Das bedeutet gerade nicht, daß Gott weit weg ist und unsere Gebetsworte ihn nur über eine große Distanz hinweg erreichen. Martin Luther hat bereits deutlich erkannt, daß diese Worte „im Himmel“ das mittelalterliche Weltbild sprengen: Der Himmel ist da, wo Gott ist, er ist nicht an Raum und Zeit gebunden. Er ist gleichsam eine Dimension, die uns unmittelbar umgibt, auch wenn wir sie mit unseren Sinnen noch nicht wahrnehmen können. Darum richten wir unser Gebet nicht an einen fernen Gott, sondern an unseren Vater, der uns noch viel näher ist, als wir dies überhaupt ahnen.

Im Unterschied zu den anderen Stücken des Katechismus entfaltet Martin Luther die drei „Dein“-Bitten des Katechismus jeweils mit zwei Fragen: „Was ist das?“ und „Wie geschieht das?“ Mit der ersten Frage bezieht er die Vaterunserbitte auf den Beten persönlich. Mit der zweiten Frage macht er dann aber zugleich deutlich, daß nicht wir mit unserem Tun die Bitte erfüllen, sondern daß Gott selbst die Bitte mit Seinem Handeln erfüllt: Nicht wir verherrlichen Gott, sondern Gott verherrlicht sich an uns.

Die erste Bitte war Jesus in einer ganz ähnlichen Form von Kindheit an vertraut. Im Qaddisch-Gebet beten Juden bis heute: „Verherrlicht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er nach seinem Willen schuf. Es herrsche seine Königsherrschaft zu euren Lebzeiten und in euren Tagen und zu Lebzeiten des ganzen Hauses Israel in Eile und Bälde.“ So ist auch diese erste Bitte des Vaterunsers gleichsam ein einleitendes Gotteslob, das in der For m eines Gebetswunsches vorgetragen wird.

Der „Name“ Gottes ist im Alten Testament gleichsam die der Welt zugewandte „Seite“ Gottes, der „Gott für uns“ im Unterschied zum „Gott an sich“: Gott, wie er sich uns zu erkennen gibt. Diese Zuwendung Gottes zu uns hat ganz konkret in der Heiligen Taufe bei uns stattgefunden, als Gottes Name mit unserem Lebensgeschick untrennbar verbunden wurde.

Martin Luther legt diese erste Bitte zugleich als eine Bitte um Glaubensgehorsam aus. In seinem Großen Katechismus führt er das Beispiel eines ungezogenen Kindes an, das mit seinem Verhalten seinem Vater Unehre bereitet. Wir bitten Gott darum, daß wir als Christen mit unserem Verhalten unserem Vater im Himmel keine Unehre bereiten und dadurch nicht andere Menschen davon abhalten, Gott ebenfalls als ihren Vater zu erkennen und anzurufen, sondern daß wir mit unserem Verhalten vielmehr anderen Menschen dazu Lust machen, selber auch als Christen zu leben. Vor unserem Leben als Christen steht aber die Lehre, die Verkündigung des Evangeliums. Wo diese Verkündigung nicht „lauter und rein“, also unverfälscht, geschieht, da wird Gottes Name verunehrt. Daß Gott uns davor bewahre, sollte immer wieder die Bitte nicht nur der Pastoren, sondern der ganzen Kirche sein. Richtmaß für den Prediger soll von daher nicht sein, ob den Menschen das gefällt, was er verkündigt, sondern ob es Gottes Wort ist und damit Seiner Ehre dient. Wo jedoch das Evangelium unverfälscht verkündigt wird, da wirkt es auch Glauben, erwächst aus diesem Glauben dann auch das Leben, das Gott gefällt und Seinen Namen heiligt. Eben darum können wir Gott immer wieder nur im Gebet bitten.