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2. Die Zeugen Jehovas (Teil 1)

Die Entstehungsgeschichte der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ist ein klassisches Beispiel für die Entstehungsgeschichte einer Sekte: Wie fast alle Sekten ist auch die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas in einem reformiert-freikirchlichen Milieu entstanden: Gründer der Gemeinschaft ist ursprünglich der amerikanische Textilkaufmann Charles Taze Russell, der aus einem presbyterianischen Elternhaus stammte, sich dann aber 1870 einer adventistischen Splittersekte, der „Second Adventists“, anschloss und von ihnen die Vorstellung übernahm, dass sich das Datum der Wiederkunft Christi aus der Heiligen Schrift berechnen ließe. Nach Berechnung der „Second Adventists“ sollte Christus 1874 sichtbar wiederkommen. Als das Jahr 1874 ohne besondere Vorkommnisse verstrich, schloss sich Russell mit seiner „Bibelforscher-Gruppe“, wie er sie nannte, mit einer Absplitterung von den „Second Adventists“ zusammen und vertrat deren Auffassung, dass Christus 1874 unsichtbar wiedergekommen sei. Von nun ab verkündigte er, dass nach einer 40jährigen „Ernte- und Gerichtszeit“ 1914 das „Königreich Gottes“ errichtet werde. Zu diesem Zweck brachte Russell ab 1879 ein Monatsblatt heraus mit dem Titel „Zions Wachtturm, Verkündiger der Gegenwart Christi“, das ab 1881 von einer durch ihn gegründeten „Zions Wachtturm Traktat-Gesellschaft“ verbreitet wurde. 1909 wurde das Hauptquartier der „Wachtturm-Gesellschaft“, wie sie sich seit 1896 nannte (im Folgenden: WTG), in Brooklyn/New York eröffnet, wo es sich heute noch befindet. Zu dieser Zeit nannten sich die Zeugen Jehovas noch „Bibelforscher“. 1914 brach nicht das Königreich Gottes an; dafür brach der Erste Weltkrieg aus. Russell wendete dafür zur Erklärung wieder denselben Trick wie 1874 an: Das Königreich der Welt sei für uns unsichtbar 1914 Christus übertragen worden. Als Russell 1916 starb, ging ein Jahr später aus den Nachfolgekämpfen der Rechtsanwalt Joseph Franklin Rutherford als Sieger hervor. Unter ihm erfolgte der Umbau der bis dahin eher locker organisierten Bibelforscher in eine straff zentralistisch organisierte Sekte:
Gleich nach seinem Amtsantritt begann Rutherford eine aggressive Kampagne gegen den US-amerikanischen Staat, den er als „satanische Organisation“ bezeichnete. Mitglieder seiner Organisation durften keinen Wehrdienst ableisten und sich damit auch nicht am Ersten Weltkrieg beteiligen; Rutherford selber und einige weitere WTG-Führer wurden deswegen auch zu Gefängnisstrafen verurteilt, aber bereits 1919 wieder entlassen. 1931 gab Rutherford den „Bibelforschern“ in Anlehnung an Jesaja 43,10 den Namen „Zeugen Jehovas“ (auf die Entstehung des Namens „Jehova“ werde ich im zweiten Teil eingehen); seit 1932 wurden die örtlichen Leiter der Versammlungen von oben von der Zentrale her eingesetzt. Das Führungsgremium in Brooklyn, die „Leitende Körperschaft“, verstand sich nun als „Kanal Jehovas“, der den „Zeugen“ ihre „geistliche Speise“ reichte. 1938 wurden alle Versammlungen gezwungen, schriftlich zu erklären, dass sie auch künftig alle Anordnungen und Lehren der WTG ohne Diskussion akzeptieren würden. Damit war der Umbau der „Zeugen Jehovas“ zu einer straff geführten sogenannten „Theokratischen Organisation“ (also einer Organisation, die angeblich von Gott selbst regiert wird – natürlich durch den Kanal der WTG)  abgeschlossen. Rutherford führte auch die Besuche von Haus zu Haus, die Abhaltung großer Kongresse, statistische Arbeitsberichte, in denen genau verzeichnet ist, wie viele Stunden welcher Zeuge Jehovas welche Arbeit für die Organisation geleistet hat, und das System der „Königreichssäle“, der örtlichen Versammlungsräume, ein. Nach seinem Tod 1942 etablierte sein Nachfolger, Nathan Homer Knorr, die sogenannte „Theokratische Predigtdienstschule“, die seitdem wöchentlich in jeder Versammlung rund um die Welt durchgeführt wird. Bei dieser Schulung werden Gesprächstechniken und die Lehren des „Wachtturm“ eingeübt, und es werden Auftritte an fremden Haustüren trainiert. Dazu kam seit 1958 die Ausbildung der Funktionäre der mittleren Ebene in sogenannten „Königreichsdienstschulen“. 1964 gab es bereits eine Million Zeugen Jehovas weltweit, 1974 zwei Millionen, 1986 war die dritte Million erreicht. 2008 gab es nach Auskunft der Organisation weltweit etwa 7,1 Millionen im Predigtdienst aktive Zeugen Jehovas, davon 166.182 Personen in Deutschland. Etwa ein Dritter der Mitglieder lebt in Lateinamerika, über eine Million in den USA.
In Deutschland wurden viele Zeugen Jehovas während der Zeit des Nationalsozialismus wegen ihrer ablehnenden Stellung zum Staat verfolgt, in Konzentrationslager gebracht und ermordet. Dies beschränkte sich allerdings zumeist auf die „einfachen“ Mitglieder der Organisation, während die Führungsebene in Deutschland diese Zeit relativ unbeschadet überstand … In den letzten Jahren machten die „Zeugen Jehovas“ in Deutschland vor allem durch ihr Bemühen von sich reden, als Körperschaft des öffentlichen Rechtes anerkannt zu werden – was natürlich mancherlei finanzielle Vorteile mit sich bringt. Zu diesem Zweck milderten die Zeugen Jehovas in letzter Zeit auch ihre scharfe Polemik gegen den Staat und seine Einrichtungen ein wenig ab, um den Erfolg ihrer Klagen vor Gericht nicht zu gefährden. Während die Zeugen Jehovas beispielsweise hier im Land Berlin mit ihrer Klage Erfolg hatten, haben sie – trotz gegenteiliger Propaganda – in Deutschland insgesamt eher einen leichten Schwund in der Mitgliederzahl zu verzeichnen. Dazu trägt auch bei, dass über die modernen Kommunikationsmedien Zeugen Jehovas vermehrt Zugang zu kritischen Informationen über die Diskrepanz zwischen Lehre und Praxis der WTG erhalten. So erschütterte die Nachricht, dass die WTG, zu deren wichtigsten Lehren die Verurteilung der Vereinten Nationen als satanischer Organisation zählt, auf ihrer Führungsebene mit den Vereinten Nationen als „Nichtregierungsorganisation“ eng zusammenarbeitete, sodass ein Leitungsmitglied der WTG sogar mit einem UN-Diplomatenpass durch die Welt reiste, viele Mitglieder ebenso wie eine ganze Reihe von Fällen von Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas, die das Bild der „anständigen“ Zeugen Jehovas, bei denen das Familienleben noch in Ordnung ist, doch auch innerhalb der Organisation sehr in Frage stellte. Auch wurde bekannt, dass die riesigen finanziellen Gewinne, die die WTG – übrigens eine Aktiengesellschaft! – jedes Jahr dank des Einsatzes ihrer Mitglieder macht, von dieser in Luxusimmobilien, ja sogar in Beteiligungen an Rüstungsunternehmen – trotz strikter Ablehnung des Wehrdienstes durch die Zeugen Jehovas! – investiert wurden. Während die einfachen Zeugen Jehovas freiwillig oftmals einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen der Arbeit der Organisation zur Verfügung stellen, fliegt der Präsident der WTG gerne mit seiner Cessna zur Jagd nach Alaska. Dazu kommt, dass mit der Abnahme der Bedeutung der Printmedien auch eine wichtige Einnahmequelle und Säule der Arbeit der Zeugen Jehovas gefährdet ist. Deutlich erkennbar ist, dass die Zeugen Jehovas vor allem in der Dritten Welt mit ihrer Arbeit weiterhin großen Erfolg haben. Hier in Deutschland stellen russlanddeutsche Aussiedler eine wichtige Zielgruppe ihrer Arbeit dar, die sie mit Traktaten in russischer Sprache zu erreichen versuchen, wobei sie zunächst den Eindruck erwecken, als handele es sich bei ihnen um Vertreter einer christlichen Kirche. Überhaupt muss man in der Beurteilung der Zeugen Jehovas einen großen Unterschied machen zwischen den „einfachen“ Zeugen Jehovas, von denen viele zunächst gar nicht wissen, in was für eine Gruppierung sie eigentlich geraten sind, und die auch zumeist gar nicht merken, in welcher Weise sie dort manipuliert werden, und den Vertretern der Führungsebene, die sehr wohl wissen, in welcher Weise sie die einfachen Zeugen Jehovas ausnutzen und für die Zwecke ihrer Organisation gebrauchen, wie Berichte von Aussteigern deutlich machen.
Gespräche mit Zeugen Jehovas führen leider zumeist nicht sehr viel weiter, da diese gedanklich sich in einem geschlossenen System befinden, das eine Hinterfragung der eigenen Position praktisch unmöglich macht: Wer einmal die „Brille“ aufgesetzt hat und die Heilige Schrift mit dem Vorverständnis der Zeugen Jehovas liest, entdeckt dort scheinbar überall eine Bestätigung der eigenen Lehre. Dazu kommt, dass natürlich nicht alles, was die Zeugen Jehovas lehren und behaupten, grundsätzlich falsch ist. Da sie sich – wenn auch auf ihre ganz eigene Weise – auf die Heilige Schrift beziehen, lehren sie natürlich auch vieles, was darin tatsächlich geschrieben steht. Werden die Lehren der WTG jedoch in einem Gespräch durch Bezüge auf andere Bibelstellen in Frage gestellt, so verweisen Zeugen Jehovas in der Regel darauf, dass sie erst einmal Rücksprache mit dem jeweiligen Versammlungsleiter oder anderen Funktionären halten müssten. Grundsätzlich haben sie ohnehin eine gewisse „Immunisierung“ durchgemacht, die jede Kritik an der WTG von vornherein als widergöttlich wahrnimmt, der man sich von daher verschließen muss.
Über lange Zeit verfolgte die Leitung der WTG in der Organisation eine Strategie der Abgrenzung und Isolierung ihrer Mitglieder. Dazu zählte beispielsweise vor einigen Jahrzehnten die Ersetzung des Kreuzes als eines zentralen christlichen und kirchlichen Symbols durch einen Pfahl mit der Behauptung, Jesus sei angeblich an einem Pfahl gestorben. Dazu zählt beispielsweise auch das Verbot, kirchliche Feste wie Weihnachten oder Ostern oder den Geburtstag zu feiern – Gelegenheiten, bei denen beispielsweise Kinder und Jugendliche mit Nicht-Zeugen Jehovas zusammenkommen könnten. Wie im Falle des „Pfahls“ versucht man auch im Falle der Ablehnung der Feste, diese Ablehnung nachträglich mit einer biblischen Begründung zu versehen. Von besonderer Bedeutung für die Zeugen Jehovas ist die Ablehnung der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes. Die Argumentationsmuster, die dabei verwendet werden, sind dabei interessanterweise zutiefst rationalistisch und oft genug der liberalen Theologie vom Anfang des 20. Jahrhunderts entnommen. Auch darin zeigt sich wieder, dass die Organisation der Zeugen Jehovas zumeist nicht in der Lage oder auch nicht willens ist, wahrzunehmen, wie sie selber in ganz ausgeprägter Weise Kind ihrer Zeit – genauer gesagt: Kind des 19. Jahrhunderts ist. Inwiefern zaghafte Versuche von Vertretern der WTG in der letzten Zeit, selber Irrtümer in der Geschichte der Organisation zuzugeben, Zeichen einer wirklichen Öffnung darstellen, bleibt zweifelhaft. Wenn etwa die WTG mittlerweile von der Lehre abrückt, dass die Generation, die im Jahr 1914 bei der Übertragung des Königreiches der Welt auf Christus am Leben war, noch die sichtbare Wiederkunft Christi erleben werde, dann hat dies wohl eher praktische Gründe, dass diese Lehre sich schlicht und einfach als nicht mehr haltbar herausgestellt hat. Insgesamt fällt jedoch auf, dass die WTG mittlerweile mit der Benennung von konkreten Terminen der Wiederkunft Christi nach den Pleiten der Vergangenheit sehr zurückhaltend geworden ist. Zugleich braucht sie die Ankündigung eines nahen Endes jedoch als ein wichtiges Druckmittel, um auf diese Weise die einzelnen Zeugen Jehovas zur Intensivierung ihres Einsatzes für die Organisation zu bewegen. Um die Inhalte der Verkündigung der Zeugen Jehovas soll es in einem 2. Teil gehen.