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4. Die Neuapostolische Kirche

Die Neuapostolische Kirche hat ihre historischen Ursprünge in einer Erweckungsbewegung in England im 19. Jahrhundert, der es darum ging, angesichts der bald erwarteten Wiederkunft des Herrn die Christenheit zur Einheit zu rufen. In dieser Bewegung wurden in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts nacheinander zwölf Männer durch prophetische Rede zu „Aposteln“ berufen, die diesen Dienst des Rufs zur Einheit angesichts des kommenden Christus in verschiedenen Ländern Europas und darüber hinaus versehen sollten. Inhaltlich wollte diese Bewegung, die sich bald „Katholisch-Apostolische Gemeinden“ nannte, keine Sonderlehren vertreten und behandelte vielmehr die unterschiedlichen christlichen Konfessionen mit großem Respekt.
Ursprünglich hatten die zwölf neuberufenen Apostel geglaubt, dass die Wiederkunft Christi noch zu ihren Lebzeiten stattfinden werde. Als dann jedoch 1855 die ersten drei Apostel starben, bekannte man offen, dass man sich darin geirrt habe, und verzichtete bewusst auf die Berufung neuer Apostel. Seit 1901 der letzte Apostel starb, starben im Laufe der Zeit auch alle anderen Ämter, die von den Aposteln her eingesetzt worden waren, in den katholisch-apostolischen Gemeinden aus, sodass dort heutzutage nur noch Gebetsgottesdienste gefeiert werden können. Da sich die katholisch-apostolischen Gemeinden jedoch nie als eine neue Konfession oder „Sonderkirche“ verstanden hatten, hatten ihre Glieder immer auch die Verbindung zu anderen Kirchen aufrechterhalten, in denen sie auch heute Amtshandlungen vornehmen lassen.
In Deutschland kam es jedoch ab den 60er Jahren zu einer Abspaltung von der Bewegung der katholisch-apostolischen Gemeinden: Entgegen der Entscheidung des Apostelkollegiums in England ließen sich dort Männer zu neuen Aposteln berufen, die jeweils bestimmten „Apostelbezirken“ vorstanden. In dieser neuen „Allgemeinen Christlichen Apostolischen Mission“, die ab 1907 „Neuapostolische Gemeinde“ und ab 1930 „Neuapostolische Kirche“ (NAK) genannt wurde, fanden bald auch grundlegende gottesdienstliche Reformen statt: Der Apostel für Holland, Friedrich Schwartz, ließ die gottesdienstlichen Versammlungen, die in den katholisch-apostolischen Gemeinden sehr liturgisch geprägt waren, vom calvinistischen Gottesdienst her umgestalten: Liturgie, Kerzen und Gewänder wurden abgeschafft.
Wirkten die einzelnen „Apostel“ in ihren Bezirken je für sich selbständig, so erhob Ende des 19. Jahrhunderts der Apostel von Braunschweig Friedrich Krebs einen Führungsanspruch über die anderen Apostel, den er schließlich auch durchsetzte: 1897 ließ er sich von den anderen Aposteln als „Stammapostel“ anerkennen. Unter Krebs und seinen Nachfolgern wurde die Heilsbedeutung des Stammapostelamtes immer stärker herausgestellt. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die „Botschaft“ des Stammapostels Johann Gottfried Bischoff aus dem Jahr 1951 dar: „Ich bin der Letzte, nach mir kommt keiner mehr. So steht es im Ratschluss Gottes, so ist es festgelegt, und so wird es der Herr bestätigen.“ Entspricht ließ er verlautbaren: „Ohne den Stammapostel Bischoff gibt es keine Erste Auferstehung, keinen Einzug in den Hochzeitssaal und kein Wohnen im Reiche der Herrlichkeit.“ Wer diesen Anspruch nicht anerkannte, wurde aus der NAK ausgeschlossen. So kam es in den 50er Jahren zu einer größeren Abspaltung von der NAK, der „Vereinigung Apostolischer Gemeinden in Europa“ (VAG). Diese  Abspaltung bringt bis heute Trennungen quer durch viele neuapostolische Familien mit sich. Umso größer war zunächst die Verwirrung unter den Gläubigen, als Bischoff am 6. Juli 1960 starb, ohne dass Christus bis dahin, wie von ihm angekündigt, wiedergekommen war. Doch schnell bestimmte man einen neuen Stammapostel und ließ mitteilen: „Wir stehen vor dem unerforschlichen Ratschluss unseres Gottes und fragen uns, warum er seinen Willen geändert hat. Der Stammapostel, der das Erlösungswerk des Herrn auf den höchsten Stand der Vollendung gebracht hat, kann sich nicht geirrt haben.“ Dass Bischoff selber noch wenige Jahre vor seinem Tod seinem Sohn die Druck- und Verlagsrechte seiner Druckerei für die gesamte neuapostolische Welt für die nächsten 25 Jahre (!) vertraglich gesichert hatte, wurde tunlichst nicht bekanntgegeben … In der Folgezeit hatte die NAK dennoch ein erstaunliches Wachstum zu verzeichnen. In Deutschland hatte sie zeitweilig über 400.000 Mitglieder, schrumpft aber in den letzten Jahren sehr deutlich und musste auch bereits viele Kirchgebäude aufgeben. Dafür wächst sie immer noch stark in Afrika und ist auch im Gebiet der früheren Sowjetunion sehr aktiv. Nicht wenige Glieder unserer Gemeinde gehörten dort früher einer neuapostolischen Gemeinde an, ohne zu wissen, dass sie damit in Wirklichkeit in eine Sekte geraten waren. Seit den 70er Jahren befindet sich die Zentrale der NAK in Zürich; die letzten Stammapostel sind allesamt Schweizer gewesen. Seit einigen Jahren gibt es in der NAK erhebliche Bewegung: Schon unter dem Stammapostel Richard Fehr (1988-2005) fand eine gewisse Öffnung der NAK statt: Als Werbefachmann versuchte er, die NAK von ihrem „Sektenimage“ zu befreien und ließ erste Ansätze einer innerkirchlichen Diskussion zu. Diese Öffnung wurde unter seinem Nachfolger Wilhelm Leber seit 2005 fortgesetzt; erstmals machte man sich daran, die Geschichte der NAK, vor allem die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Stammapostel Bischoff, aufzuarbeiten. Als am 4. Dezember 2007 die Ergebnisse der Aufarbeitung auf einem „Informationsabend“, der per Videokonferenz in viele neuapostolische Gemeinden übertragen wurde,  präsentiert wurden, führte diese Präsentation jedoch zu einem Fiasko: Stammapostel Bischoff wurde von allen Vorwürfen reingewaschen; Schuld an allen Problemen seien nur die gewesen, die nicht genügend mit ihm zusammengearbeitet hätten. Daraufhin gab es einen Sturm der Entrüstung innerhalb der NAK. Viele kritische NAK-Mitglieder verließen die Sekte; auch alle Bemühungen um eine Annäherung zur VAG waren damit gescheitert. Seitdem bemüht sich die Leitung der NAK darum, den Schaden in Grenzen zu halten, und sendet weitere Signale der Öffnung, die ihrerseits jedoch von konservativen NAK-Mitgliedern wieder heftig kritisiert werden. Insgesamt gibt es heutzutage einen tiefen Riss zwischen konservativen und progressiven NAK-Flügeln. Einige progressive Gemeinden und Bezirke bemühen sich darum, als eine Art von „Freikirche“ in die örtlichen und überregionalen Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen aufgenommen zu werden und sind dazu bereit, dafür auch wesentliche Positionen der NAK aufzugeben oder zumindest stark abzuschwächen. Andere hingegen lehnen diesen Kurs bewusst ab. Wie die Leitung der NAK mit diesem Konflikt künftig umgehen wird, ist noch nicht abschließend erkennbar.
Grundsätzlich besitzt die NAK zunächst einmal die klassischen Kennzeichen einer Sekte: Sie hat mit dem Stammapostel ein Leitungsamt, von dem behauptet wird, dass durch ihn der Heilige Geist unmittelbar in der NAK wirke. Während das Wort der Heiligen Schrift totes Wort der Vergangenheit sei, habe man in der NAK das lebendige Wort der lebenden Apostel, das in seiner Bedeutung entsprechend noch über der Heiligen Schrift stehe. Vor allem im vergangenen Jahrhundert gab es in der NAK einen Kult um den Stammapostel, der die Grenzen zur Blasphemie nicht selten überschritt. Auch in ihrem exklusiven Selbstanspruch erwies sich die NAK als klassische Sekte: „Die NAK ist die Kirche Jesu Christi, die direkte und unmittelbare Fortsetzung der ersten apostolischen Kirche, mit der sie die alleinige Kirche Jesu Christi bildet und Gottes Volk ist“, heißt es noch 1992 im NAK-Katechismus. Da der Heilige Geist nur durch die Apostel und die von ihnen eingesetzten Ämter wirke, könnten die anderen christlichen Kirchen keine Kirche im Vollsinn sein. So mussten beispielsweise Taufen, die in anderen Kirchen gespendet wurden, bis zum Jahr 2006 in der NAK erst durch einen Apostel der NAK bestätigt werden, damit sie zu einer gültigen Taufe wurden. Diese Lehre und Praxis wurde im Jahr 2006 interessanterweise abgeschafft. Dennoch lehrt die NAK weiter, dass die Wiedergeburt aus Wasser und Geist erst durch das Sakrament der sogenannten „Versiegelung“, die man in entferntem Sinn mit unserer Konfirmation vergleichen kann, und nicht schon in der Taufe selbst erfolgt.
In der NAK gibt es eine ganze Ämterhierarchie; wer sich in ihr engagiert, kann, sofern er männlich ist, bald selber auch zum Amtsträger werden. Da alle Amtsträger den Heiligen Geist haben, brauchen sie Predigten im Gottesdienst grundsätzlich nicht schriftlich vorzubereiten, sondern predigen „frei“, was in Wirklichkeit aufgrund fehlender theologischer Ausbildung oftmals zu einer stereotypen Wiederholung von Floskeln und immer wieder gleichen Themen führt, da biblische Texte, wenn überhaupt gebraucht, höchstens als „Sprungbretter“ verwendet werden. In jedem Gottesdienst wird das Abendmahl gefeiert; gereicht wird es in Form einer Hostie, auf der sich drei Tropfen Wein befinden. Zu den Besonderheiten der NAK gehören auch die sogenannten „Entschlafenengottesdienste“, da die NAK lehrt, dass Gnadenhandlungen auch an bereits Verstorbenen vorgenommen werden können. Befindet sich ein Apostel in solch einem Entschlafenengottesdienst, so kann er nach dem Gottesdienst zwei Amtsträger herausrufen und sie stellvertretend für Verstorbene taufen und ihnen das Abendmahl reichen, da die Verstorbenen sich nach ihrem Tod nach Auffassung der NAK selbstverständlich nach der Zugehörigkeit zur NAK sehnen.
Ob die NAK sich grundsätzlich auf dem Weg von einer Sekte zu einer Freikirche befindet, bleibt zurzeit doch noch sehr fraglich. Letztlich müsste sie damit ihr Glaubensbekenntnis preisgeben, in dem es heißt: „Ich glaube, dass der Herr Jesus seine Kirche durch lebende Apostel regiert bis zu seinem Wiederkommen, dass er seine Apostel gesandt hat und noch sendet mit dem Auftrag, zu lehren, in seinem Namen Sünden zu vergeben und mit Wasser und dem Heiligen Geist zu taufen. Ich glaube, dass sämtliche Ämter in der Kirche Christi nur von Apostel erwählt und in ihr Amt eingesetzt werden und dass aus dem Apostelamt Christi sämtliche Gaben und Kräfte hervorgehen müssen.“ Auch hält man weiter daran fest, dass der Stammapostel irrtumsloser „Repräsentant des Herrn auf Erden“ ist – ein Anspruch, der übrigens noch deutlich über den Selbstanspruch des römischen Papstes hinausgeht. Sollte die NAK ihren Anspruch aufgeben, exklusive Heilsanstalt zu sein, dann stellt sich wohl doch die Frage nach ihrer Existenzberechtigung überhaupt. Andererseits muss man anerkennend festhalten, dass es innerhalb der NAK mittlerweile einen Diskussionsprozess gibt, wie er für totalitäre Sekten eher untypisch ist, auch wenn die Leitung diesem Diskussionsprozess immer wieder Grenzen zu setzen versucht und in diesem Zusammenhang auch zu disziplinarischen Maßnahmen greift. Dass die NAK die Entwicklung, die in ihr begonnen hat, noch einmal ganz wird rückgängig machen können, erscheint fraglich. Dennoch wird man die NAK im Augenblick zweifellos noch als Sekte einstufen müssen. Dass sie in letzter Zeit deutlicher als früher die normative Funktion der Aussagen der Heiligen Schrift auch für alle Lehren der Apostel hervorhebt, lässt allerdings Hoffnung aufkommen, dass sich auch in dieser Gruppierung das Wort Gottes der Heiligen Schrift als wirksam erweisen und zu Buße und Erneuerung führen kann.