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8. Die „Johannische Kirche“

Geschichte und Lehre der Johannischen Kirche sind untrennbar mit der Person Joseph Weißenbergs verbunden. Er ist nicht nur der Gründer dieser Kirche, sondern ist mit seiner Person zugleich auch Inhalt des Glaubens seiner Anhänger.

Joseph Weißenberg wurde 1855 in Schlesien als Sohn römisch-katholischer Eltern geboren, die an der Cholera starben, als er elf Jahre alt war. Schon früh zeigten sich bei ihm Neigungen zur Beschäftigung mit dem Übersinnlichen. Mit 27 Jahren siedelte er nach Berlin über, wo er zunächst als Gastwirt arbeitete. 1903 glaubte Weißenberg eine besondere Christusvision zu haben, die ihn dazu berief, „rüber ins Geistige“ zu kommen. Daraufhin widmete sich Weißenberg ganz seiner Heiltätigkeit und eröffnete eine Praxis, die er „Heil-Institut J. Weißenberg, Heilmagnetiseur“ nannte. Weißenberg heilte durch Handauflegung sowie durch verschiedene Tees und mit Quark, der entweder gegessen oder auf die schmerzenden Stellen gelegt wurde. Außerdem mussten die Patienten zwei Vaterunser und Psalm 1 beten. 1904 gründete er die „Christliche Vereinigung ernster Forscher von Diesseits und Jenseits – wahrer Anhänger der christlichen Kirchen“. In den Versammlungen seiner Vereinigung veranlasste Weißenberg „lichte Geister“, ihre Botschaften aus dem Jenseits über Medien zu verkündigen. Inhalte dieser sogenannten „Geistfreundreden“ waren der Mensch und sein Fortleben nach dem Tod, die Geisterwelt und später dann auch die Person Weißenbergs selbst. Da Weißenberg selber sehr deutschnational eingestellt war, ließ er bevorzugt verstorbene Persönlichkeiten wie Bismarck, Moltke, Kaiser Wilhelm I. oder die preußische Königin Luise in diesen Geistfreundreden zu seinen Anhängern sprechen, später auch Horst Wessel. Auch Martin Luther soll sich aus dem Jenseits zu Joseph Weißenberg bekannt haben. Da es bei diesen Versammlungen zum Teil sehr turbulent zuging, wurden sie schließlich während des Ersten Weltkriegs verboten; Weißenberg wurde sogar für einige Wochen inhaftiert. Erst nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches konnte Weißenberg wieder tätig werden. Er gründete 1920 eine „Christliche Siedlungsgenossenschaft ‚Waldfrieden’“ und ließ in den Glauer Bergen südlich von Berlin bei Trebbin eine für die damalige Zeit sehr moderne Mustersiedlung mit einer Versammlungshalle erbauen, die er „Friedensstadt“ nannte.

Bereits 1908 hatte die Ehefrau Weißenbergs diesen verlassen; seitdem lebte er mit seinem Hauptmedium Grete Müller zusammen, mit der er zwei Töchter hatte: Frieda und Elisabeth Müller. Nachdem Weißenberg eine Zeitlang glaubte, seine Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche, in die er zwischenzeitlich eingetreten war, weiterführen zu können, trat er 1926 mit seinen Anhängern aus der evangelischen Kirche aus und gründete die „Evangelisch-Johannische Kirche nach der Offenbarung St. Johannis“. In dieser Kirche wurde Weißenberg nun immer offener als göttlich verehrt. 1932 bestimmte Weißenberg seine Tochter Frieda zu seiner Nachfolgerin. Obwohl Weißenberg die nationalsozialistische Machtergreifung begrüßte, wurde seine Kirche 1935 verboten; Weißenberg wurde verhaftet und schließlich in einen Kurort in Schlesien verbannt, wo er am 6. März 1941 starb. Das Gelände der Friedensstadt wurde zunächst von den Nationalsozialisten und später auch von der sowjetischen Armee als Truppenübungsplatz genutzt. Nach 1945 organisierte Frieda Müller die Johannische Kirche neu; in der DDR entstand ein neues Kirchenzentrum „Waldfrieden“ in Berlin-Blankensee mit großer Versammlungshalle; in West-Berlin wurde 1957 in Grunewald das St. Michaels-Heim als kirchliches Zentrum eingeweiht. In der Folgezeit entfaltete die Johannische Kirche bemerkenswerte soziale Aktivitäten durch ihr „Johannisches Aufbauwerk“ (seit 1990: Johannisches Sozialwerk), das Mitglied des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist, und widmete sich zunehmend auch den Themen „Ökologie“ und „Frieden“. Nach 1990 erhielt die „Johannische Kirche“, wie sie sich seit 1975 offiziell nennt, ihre „Friedensstadt“ wieder zurück und ist seitdem damit beschäftigt, diese wieder neu mit Leben zu füllen. Dies ist insofern eine große Herausforderung, als die Johannische Kirche, die in ihrer Blütezeit um 1930 herum 126.000 Anhänger und 400 Gemeinden hatte, durch das Verbot von 1935 und den Verlust der Ostgebiete, in denen sie besonders verbreitet war, stark geschrumpft ist.  Sie hat heute im deutschen Sprachraum etwa noch 3000 Mitglieder. Seit dem Jahr 2001 wird die Johannische Kirche von der Tochter Frieda Müllers, Josephine Müller, die 1949 geboren wurde, geleitet.

Das Wirken Joseph Weißenbergs ist wesentlich von spiritistischem Gedankengut geprägt, das er christlich zu interpretieren versuchte. Seine Lehre zeigt mancherlei Ähnlichkeit mit gnostischen Gedanken und klingt von daher in manchem im Zeitalter der Esoterik wieder recht aktuell: Der Mensch trägt in sich einen göttlichen Funken; in seinem Leben soll er durch gute Werke und Liebe eine geistige Kraft in sich ansammeln. Je nachdem, wie weit er dabei gekommen ist, erhält seine Seele nach dem Tod ihren Platz in einer der sieben Sphären des Lichts oder einer der sieben Sphären der Finsternis. Gott gibt ihr dann die Möglichkeit, in einem nächsten Erdenleben zurückliegende Schuld abzutragen und sich weiter zu vervollkommnen. Auch bei Weißenberg ist erkennbar, wie der Reinkarnationsgedanke die Botschaft von Gnade und Vergebung ausschließt: Der Mensch muss selber in einem Kreislauf von Wiedergeburten wiedergutmachen, was er im vorigen Leben versäumt hatte. Von den Sphären des Lichts weiß man in der Johannischen Kirche übrigens erstaunlich Konkretes zu berichten: So steht in der 6. Sphäre des Lichts der Tempel Jehovas mit einer Kanzel, von der herab Luther die Lehre Weißenbergs predigt. In einer Kapelle verricht die Königin Luise von Preußen zusammen mit Frieda Müller himmlische Dienste.

Bei der Vervollkommung des Menschen spielen nun die Geister der Verstorbenen eine wichtige Rolle: Sie melden sich in der Johannischen Kirche bis heute in „Geistfreundreden“ zu Wort und weisen den Irdischen den rechten Weg. Schon zu Lebzeiten Weißenbergs wurde dieser in solchen Geistfreundreden immer deutlicher als „Paraklet (Tröster)“, Jehova und Heiliger Geist angeredet. Von Weißenberg wurde dieser zunehmende Personenkult zumindest geduldet. So schrieb man beispielsweise 1928 in der Zeitschrift der Johannischen Kirche über Weißenberg: „Zum Geburtstag des Heiligen Geistes im Fleisch: Urgeist aller Geister, Herr der Welten, der du Millionen Sonnensysteme im All kreisen lässt, über Millionen bewohnter Erdensterne wachest, die wundervollen Gesetze gabst, die tote und lebendige Natur aufbauen und erhalten, erfülle deine Geschöpfe, die armselige, kleine Menschheit in brausenden Symphonien mit heiligem Feuer des Glaubens.“ Es gehört zum festen Glaubensgut der Johannischen Kirche auch heute, dass Joseph Weißenberg der von Jesus in den Abschiedsreden in Johannes 14-16 verheißene „Tröster“ und Geist der Wahrheit ist. Von daher wenden sich die Glieder der Johannischen Kirche in Gebeten an ihn, der allgegenwärtig ist, und bitten um sein Kommen in ihre Mitte. Demgemäß lautet das Glaubensbekenntnis der Johannischen Kirche: „Ich glaube an Gott den Vater, ich glaube an Gott den Sohn, ich glaube an Gott den Heiligen Geist, und an Gottes Offenbarungen durch Mose, Jesus Christus und Joseph Weißenberg.“ Entsprechend den drei Offenbarungen gibt es auch drei Testamente: Das Alte und Neue Testament sind schon erschienen; das Dritte Testament, das Schriften und Äußerungen Weißenbergs enthält, ist zurzeit noch im Entstehen begriffen.

Die Johannische Kirche ist nach ihrem Selbstverständnis eine entscheidend wichtige Hilfe auf dem Wege zur Erlösung, auch wenn sie heutzutage betont, dass sie sich nicht als alleinseligmachende Kirche ansieht. Sie vermittelt durch ihre Lehre wichtige Einsichten in die tiefen Zusammenhänge des Lebens, stellt durch die Sakramente die Verbindung zur geistigen Welt her und ermöglicht in der Gemeinschaft ein Leben nach dem Liebesgebot. Die „Taufe“ wird ohne Wasser durch Handauflegung zumeist schon an Säuglingen vollzogen und vermittelt höhere geistige Kräfte. Das Abendmahl wird einmal im Jahr um den 6. März, den Todestag Joseph Weißenbergs, herum gefeiert und empfangen; dadurch werden die Empfangenden mit „ungeahnten Kräften der Ewigkeit“ verbunden. Daneben gibt es in der Johannischen Kirche zwei weitere Sakramente: Das „Sakrament der geistigen Heilung“ beruht auf der Vorstellung Weißenbergs, dass Krankheit Geist ist. Es wird gespendet als ein Mittel, das Heil des Geistes und der Seele zu befördern und damit gegebenenfalls auch körperliche Heilung zu bewirken. Es wird vollzogen durch Handauflegung und das Gebet von zwei Vaterunsern und des ersten Psalms. Auch die bereits von Weißenberg angewandten Mittel (Tees und Quark) können dabei gebraucht werden. Dieses Sakrament soll von den Mitgliedern der Johannischen Kirche nach Möglichkeit einmal im Monat empfangen werden. Das „Sakrament des Sterbens“ schließlich beruht auf der Vorstellung, dass beim Sterben die Seele aus dem Gefängnis des Körpers befreit wird – eine Vorstellung aus der griechischen Philosophie, mit der sich schon die christliche Kirche in den ersten Jahrhunderten auseinanderzusetzen hatte. Das Sakrament des Sterbens hat den Sinn, der Seele des Sterbenden zu helfen, alle Erdenbindungen abzustreifen und sich ganz auf den Meister Joseph Weißenberg und die ewige Welt auszurichten. Dazu dienen Gebete, geistliche Lesungen und Lieder.  Die Johannische Kirche wird „theokratisch“ durch Josephine Müller geleitet; wo sie anwesend ist, sind zu besonderen Anlässen „Geistfreundreden“ möglich. In ihrer Präsentation nach außen betont die Johannische Kirche heute vor allem den Gedanken, dass Gott Liebe ist und dass Menschen entsprechend liebevoll miteinander umgehen sollten, dazu die Anliegen von Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Lehre der Johannischen Kirche in entscheidenden Fragen vom christlichen Glauben abweicht und die Johannische Kirche, nicht zuletzt wegen ihrer Verehrung Weißenbergs, nicht als christliche Kirche anerkannt werden kann. Eine ökumenische Zusammenarbeit ist mit ihr nicht möglich.