11. Die Baha’i-Religion
Bei der Baha’i-Religion handelt es sich nicht um eine „Sekte“ im üblichen Sinn, erst recht nicht um eine christliche Sekte. Ihre historischen Wurzeln liegen vielmehr im schiitischen Islam, von dem sie sich jedoch so deutlich getrennt hat, dass sie sich auch nicht als „islamische Sekte“ einordnen lässt, sondern eher als eigene Religionsgründung, auch wenn die gedankliche Prägung durch den schiitischen Islam an vielen Stellen immer noch deutlich zu erkennen ist. Wenn die Baha’i-Religion dennoch in dieser Serie der Glaubensinformationen für lutherische Christen im Rahmen von Glaubensgemeinschaften und Sekten vorgestellt wird, die sich mehr oder weniger explizit selber als „christlich“ verstehen, dann deshalb, weil sich die Baha’i-Religion explizit als Fortführung und Überbietung auch des christlichen Glaubens versteht und weil sie als missionarische Religion mit ihren Lehren auch hier in Deutschland viele religiös Interessierte, gerade auch viele junge Erwachsene, anzusprechen vermag.
Die Baha’i-Religion gründet in der gleichsam messianischen Zukunftserwartung des schiitischen Islam. Nachdem sich die islamische Gemeinde im Jahr 661 n.Chr. im Streit um die Nachfolgeregelung des Propheten Mohammed gespalten hatte, bildete sich als Minderheitsgruppe die sogenannte „Schi’at Ali“, die Partei des Ali, deren Anführer, Imame genannt, für sich in Anspruch nahmen, der Familie Mohammeds direkt zu entstammen. Die Reihe dieser schiitischen Führer endete mit dem zwölften Imam. Dieser soll im Jahr 873 in eine mysteriöse „Verborgenheit“ entrückt worden sein, aus der er in der „Fülle der Zeit“ einmal als der „Mahdi“, d.h. der „Rechtgeleitete“, wiederkommen wird, um das seinen Ahnen zugefügte Unrecht zu beseitigen, die Botschaft Mohammeds zu erneuern und ihr zum weltweiten Sieg zu verhelfen. Seit dieser Zeit entstanden im schiitischen Islam immer wieder Gruppierungen und Sekten, die auf das Kommen des endzeitlichen Mahdi hinwiesen. In einer dieser Sekten trat im Jahr 1844 der Kaufmann Sayyid Ali Muhammad auf und verkündigte zunächst, er sei die „Pforte“(auf Arabisch: Bab) zum kommenden Imam Mahdi. Bald darauf erklärte er dann aber schon, dass in ihm selber der Mahdi erschienen sei. Er verfasste daraufhin ein eigenes heiliges Buch; 1848 verkündigten seine Anhänger die Unabhängigkeit der neuen Religion vom Islam. Als der Bab die Schaffung eines eigenen Mahdi-Staates forderte und seine Anhänger diesen auch mit Gewalt durchsetzen wollten, ging die persische Regierung gegen sie vor und ließ den Bab am 9. Juli 1850 in Tabriz öffentlich exekutieren. Zuvor hatte der Bab noch einen Nachfolger bestimmt. Dieser musste gemeinsam mit seinem Halbbruder Mirza Husain Ali Persien verlassen und im Exil in Bagdad, Istanbul und Edirne leben. In dieser Zeit erklärte Mirza Husain Ali, er sei der verheißene Mahdi, der Bab sei nur sein Vorläufer gewesen. Er nannte sich daraufhin Baha’u’llah, „Herrlichkeit Gottes“, und begann in der Folgezeit mit der Abfassung zahlreicher Schriften, die er vor allem in Akka im heutigen Israel verfasste, wo er zunächst in Haft, später dann in Freiheit in einem Palast außerhalb der Stadt lebte und wo er schließlich auch am 29. Mai 1892 starb und beerdigt wurde. Akka ist seither die heiligste Stätte der Baha’i und das Ziel ihrer Pilgerfahrt, die sie anstelle der Pilgerfahrt nach Mekka unternehmen. Mit seinen Schriften, vor allem dem Kitab-al-Aqdas, dem Buch der Gesetze, das er dem Koran als neue Offenbarungsschrift entgegenstellte, gründete Baha’u’llah die Baha’i-Religion als neue, eigenständige Religion. Sein Sohn und Nachfolger Abdul-Baha sorgte durch ausgedehnte Missionsreisen nach Europa und Nordamerika dafür, dass sich die Baha’i-Religion bald weltweit ausbreitete.
Ein Kerngedanke der Baha’i-Religion ist die Vorstellung einer „fortschreitenden Gottesoffenbarung“: Alle bisherigen Weltreligionen sind Vorläufersysteme, die in der Baha’i-Religion ihre eigentliche Bestimmung und Vollendung finden. Der Baha’i-Religion zufolge nimmt die Fähigkeit der Menschen, den göttlichen Willen zu erfassen, im Zuge der Menschheitsgeschichte immer weiter zu. Von daher vollzieht sich auch die göttliche Offenbarung fortschreitend bis hin zur Baha’i-Religion, die für unser nun angebrochenes Jahrtausend die „Fülle der Wahrheit“ verkörpert. In einer Selbstvorstellung der Baha’i-Religion werden die Aussagen des Johannesevangeliums über den Heiligen Geist auf Baha’u’llah übertragen: Er ist der Verheißene, der die Menschen in alle Wahrheit leiten wird. Der Gedanke, dass alle großen Religionen letztlich derselben Quelle entspringen und nach Baha’u’llah „Strahlen desselben Lichts“ sind, klingt beim ersten Hinhören sehr tolerant und entspricht dem Religionsverständnis vieler Menschen auch in unserem Land. Die Popularität des Baha’i-Glaubens ist nicht zuletzt auf diesen Gedanken zurückzuführen, dass man beispielsweise sein Christsein doch gar nicht aufgeben muss, wenn man Baha’i wird, sondern dass durch die Zugehörigkeit zur Baha’i-Religion dieser Glaube lediglich noch weiter vervollkommnet wird. In Wirklichkeit ist die Vereinnahmungsstrategie der Baha’i-Religion jedoch alles andere als „tolerant“, da sie auf der Anerkennung Baha’u’llahs als der gegenwärtigen Manifestation Gottes beruht. Das Neue Testament widerspricht diesen Vereinnahmungsversuchen in aller Deutlichkeit: Jesus Christus ist eben nicht bloß ein Prophet oder ein Vorläufer eines Größeren. In ihm hat sich Gott abschließend und endgültig zu erkennen gegeben. Auch für Baha’u’llah gelten die Worte Jesu: „Es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen.“ (St. Matthäus 24,5) „Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!“ (St. Lukas 17,23)
Die Baha’i-Religion ist gewiss eine eigenständige Religion. Dennoch trägt sie in vielem weiterhin die Züge islamischen Denkens. Wie der Islam versteht sich die Baha’i-Religion als Buch- und Gesetzesreligion; auch ihr geht es um die Schaffung einer politischen Weltordnung, die auf den von ihr verkündigten Gesetzen beruht. Diese neue Weltordnung hat die Einheit der Menschheit unter einem bestimmten religiösen Vorzeichen zum Ziel: In ihr wird eine „Weltgesetzgeberschaft“ amtieren, die für alle Menschen die Gesetze erlassen wird. Der Einheit der Menschheit dienen auch eine „Weltvollzugsmacht“ und ein „Weltschiedsgerichtshof“, ebenso wie die Schaffung einer „Weltsprache“, und einer „Weltschrift“. „Ein Weltbundsystem, das über die ganze Erde herrscht … und Ideale des Ostens wie des Westens verkörpert und in Einklang bringt, … ein System, in dem die Macht zur Dienerin der Gerechtigkeit geworden ist und dessen Dasein getragen wird durch die allgemeine Anerkennung eines Gottes und durch seine Treue zu einer gemeinsamen Offenbarung – das ist das Ziel, auf das sich die Menschheit zubewegt.“ Diese Gedanken klingen zunächst einmal sehr modern und scheinen zum Teil ja auch bereits ihre Verwirklichung in der Schaffung weltumspannender Organisationen wie etwa der Vereinten Nationen gefunden zu haben. In der Tat arbeitet die Baha’i-Organisation in vielfältiger Weise mit den Vereinten Nationen zusammen und ist von diesen als „NGO“, als Nichtregierungsorganisation, anerkannt. Problematisch ist jedoch das optimistische Menschen- und Geschichtsbild, das darin zum Ausdruck kommt und sich, in mancher Hinsicht ganz ähnlich wie der Kommunismus als typisches „Kind des 19. Jahrhunderts“ erweist: Die Menschheit entwickelt sich im Laufe der Zeit gleichsam von selbst zum immer Besseren weiter. Doch was ist mit denen, die sich im Laufe dieser Entwicklung der „allgemeinen Anerkennung eines Gottes“ (die nach Auffassung der Baha’i – ganz in Übereinstimmung mit dem Islam – die Ablehnung eines Bekenntnisses zur Dreieinigkeit Gottes einschließt) verweigern und auch die eine gemeinsame (Baha’i-)Offenbarung nicht anerkennen, auf denen die Einheit der Menschheit künftig beruhen wird? Die Erfahrung hat gezeigt, dass Religionen und Ideologien, die davon ausgehen, dass sich die Menschheit gleichsam von selbst zum Besseren entwickelt, sehr oft den Hang zum Totalitarismus in sich tragen, sobald sie mit einer Wirklichkeit konfrontiert werden, die ihrem Entwicklungsdenken widerspricht. Das zunächst so faszinierend klingende Modell einer „Theokratie“, also einer Weltherrschaft unter der gemeinsamen Anerkennung einer Religion und der durch sie erlassenen Gebote, ist aus christlicher Sicht höchst problematisch und trägt, wenn man die Johannesoffenbarung liest, eher die Züge des Antichrists. Trotzdem muss man anerkennen, dass die Baha’i-Religion von ihren Anhängern sehr bewusst nur auf dem Wege der Verkündigung und des Vorlebens verbreitet wird, ohne den Einsatz irgendwelcher Druckmittel: Private Gespräche, öffentliche Veranstaltungen und Publikationen sind neben dem persönlichen Leben des einzelnen Baha’i die wesentlichen Mittel der Religionsverbreitung, da die selbstständige Wahrheitssuche der Baha’i-Religion zufolge zu den Freiheitsrechten eines jeden Menschen zählt. Gerade dies macht die Baha’i-Religion für viele Menschen auch wieder besonders attraktiv. Dazu kommt, dass die Baha’i-Religion mit ihren Anhängern gerade im Iran seit ihrer Entstehung immer wieder von Verfolgung betroffen worden ist. Dies gilt in besonderer Weise auch unter dem jetzigen Regime, zumal die Baha’i sich zuvor in Persien sehr deutlich auf die Seite des Schahs gestellt hatten, unter dem sie praktisch, wenn auch nicht offiziell, Religionsfreiheit genossen.
Der Fortschrittsgedanke der Baha’i-Religion beruht auf einem sehr positiven Menschenbild: Ausgehend vom Gedanken der Evolution wird der Mensch als grundsätzlich gut angesehen, dessen Aufgabe es ist, sich zum immer Besseren fortzuentwickeln. Eben dazu dient auch das irdische Leben des Menschen: Er soll sich dadurch auf die jenseitige Welt vorbereiten, dass er sich alle möglichen positiven Tugenden aneignet. Der Erreichung dieses Ziels dienen die Lehren Baha’u’llahs. Die Baha’i-Religion lehrt die Unsterblichkeit der Seele, die durch den Tod vom Gefängnis des Körpers befreit wird. Bis dahin muss sie sich bestimmte Eigenschaften aneignen, um in der neuen geistigen Welt lebenstauglich zu sein.
In diesen ebenfalls sehr aktuell klingenden Gedanken ist kein Platz für Sünde, Erlösung und Vergebung im christlichen Sinne: Der Mensch erlöst sich, unter Mithilfe der Offenbarungen Baha’u’llahs, durch sein tugendhaftes Leben selber. Sakramente gibt es entsprechend in der Baha’i-Religion nicht. Auch der Eintritt in die Baha’i-Organisation erfolgt nicht durch einen Ritus, sondern durch eine schriftliche Erklärung gegenüber dem „Nationalen Geistigen Rat der Baha’i“, dass man Baha’u’llah als die Manifestation Gottes unseres Zeitalters anerkennt und sich zu seinen Schriften bekennt. Den Mittelpunkt des Gemeindelebens der Baha’i bildet das 19-Tagefest, das zu Beginn eines jeden der 19 Monate des Baha’i-Kalenders gefeiert wird und bei dem in einer gemeinsamen Andacht gebetet und aus den heiligen Schriften gelesen wird. Wenn der Baha’ismus auch eine Laienreligion ist, in der es keine Priester gibt, verfügt er doch über eine straffe und gut organisierte Hierarchie mit einem aus neun Mitgliedern bestehenden „Universalen Haus der Gerechtigkeit“ als Führungsspitze. Dieses Leitungsgremium gilt als unfehlbar; jedes Mitglied ist ihm zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Wenn auch dies noch einmal den Baha’ismus als eigenständige Religion erkennbar werden lässt, bleibt seine Nähe zum Islam doch in vielem unverkennbar. Dazu zählt beispielsweise auch die Übernahme der „fünf Pfeiler der Religion“: Das Glaubensbekenntnis zur Einheit und absoluten Jenseitigkeit Gottes, die regelmäßigen täglichen Gebete (mit Blickrichtung nach Akka!), das Fasten über 19 Tage im letzten Monat des Baha’i-Kalenders, die Abgabe von 19 Prozent des Vermögenszuwachses an die zuständige Gemeinde und die Wallfahrt nach Akka. Von diesen „fünf Säulen“ erfahren Menschen, die für den Baha’i-Glauben geworben werden, jedoch oftmals zunächst wenig, auch in den offiziellen Präsentationen, was die Seriosität der Missionspraxis der Baha’i, die die Baha’i-Religion als besonders fortschrittlich herauszustellen versucht, schon ein wenig in ein ungünstiges Licht rückt. Doch auch abgesehen davon bleibt die Baha’i-Religion eine typische Gesetzesreligion, die mit der christlichen Botschaft von unserer Erlösung allein durch Jesus Christus ohne unser Tun in keiner Weise vereinbar ist und bleibt. Ihrem Selbstanspruch muss darum immer wieder aus christlicher Sicht ganz deutlich und energisch – bei allem Respekt vor der humanistischen Lebensausrichtung und dem sozialen Engagement vieler Baha’i – widersprochen werden.
Die Baha’i-Religion gründet in der gleichsam messianischen Zukunftserwartung des schiitischen Islam. Nachdem sich die islamische Gemeinde im Jahr 661 n.Chr. im Streit um die Nachfolgeregelung des Propheten Mohammed gespalten hatte, bildete sich als Minderheitsgruppe die sogenannte „Schi’at Ali“, die Partei des Ali, deren Anführer, Imame genannt, für sich in Anspruch nahmen, der Familie Mohammeds direkt zu entstammen. Die Reihe dieser schiitischen Führer endete mit dem zwölften Imam. Dieser soll im Jahr 873 in eine mysteriöse „Verborgenheit“ entrückt worden sein, aus der er in der „Fülle der Zeit“ einmal als der „Mahdi“, d.h. der „Rechtgeleitete“, wiederkommen wird, um das seinen Ahnen zugefügte Unrecht zu beseitigen, die Botschaft Mohammeds zu erneuern und ihr zum weltweiten Sieg zu verhelfen. Seit dieser Zeit entstanden im schiitischen Islam immer wieder Gruppierungen und Sekten, die auf das Kommen des endzeitlichen Mahdi hinwiesen. In einer dieser Sekten trat im Jahr 1844 der Kaufmann Sayyid Ali Muhammad auf und verkündigte zunächst, er sei die „Pforte“(auf Arabisch: Bab) zum kommenden Imam Mahdi. Bald darauf erklärte er dann aber schon, dass in ihm selber der Mahdi erschienen sei. Er verfasste daraufhin ein eigenes heiliges Buch; 1848 verkündigten seine Anhänger die Unabhängigkeit der neuen Religion vom Islam. Als der Bab die Schaffung eines eigenen Mahdi-Staates forderte und seine Anhänger diesen auch mit Gewalt durchsetzen wollten, ging die persische Regierung gegen sie vor und ließ den Bab am 9. Juli 1850 in Tabriz öffentlich exekutieren. Zuvor hatte der Bab noch einen Nachfolger bestimmt. Dieser musste gemeinsam mit seinem Halbbruder Mirza Husain Ali Persien verlassen und im Exil in Bagdad, Istanbul und Edirne leben. In dieser Zeit erklärte Mirza Husain Ali, er sei der verheißene Mahdi, der Bab sei nur sein Vorläufer gewesen. Er nannte sich daraufhin Baha’u’llah, „Herrlichkeit Gottes“, und begann in der Folgezeit mit der Abfassung zahlreicher Schriften, die er vor allem in Akka im heutigen Israel verfasste, wo er zunächst in Haft, später dann in Freiheit in einem Palast außerhalb der Stadt lebte und wo er schließlich auch am 29. Mai 1892 starb und beerdigt wurde. Akka ist seither die heiligste Stätte der Baha’i und das Ziel ihrer Pilgerfahrt, die sie anstelle der Pilgerfahrt nach Mekka unternehmen. Mit seinen Schriften, vor allem dem Kitab-al-Aqdas, dem Buch der Gesetze, das er dem Koran als neue Offenbarungsschrift entgegenstellte, gründete Baha’u’llah die Baha’i-Religion als neue, eigenständige Religion. Sein Sohn und Nachfolger Abdul-Baha sorgte durch ausgedehnte Missionsreisen nach Europa und Nordamerika dafür, dass sich die Baha’i-Religion bald weltweit ausbreitete.
Ein Kerngedanke der Baha’i-Religion ist die Vorstellung einer „fortschreitenden Gottesoffenbarung“: Alle bisherigen Weltreligionen sind Vorläufersysteme, die in der Baha’i-Religion ihre eigentliche Bestimmung und Vollendung finden. Der Baha’i-Religion zufolge nimmt die Fähigkeit der Menschen, den göttlichen Willen zu erfassen, im Zuge der Menschheitsgeschichte immer weiter zu. Von daher vollzieht sich auch die göttliche Offenbarung fortschreitend bis hin zur Baha’i-Religion, die für unser nun angebrochenes Jahrtausend die „Fülle der Wahrheit“ verkörpert. In einer Selbstvorstellung der Baha’i-Religion werden die Aussagen des Johannesevangeliums über den Heiligen Geist auf Baha’u’llah übertragen: Er ist der Verheißene, der die Menschen in alle Wahrheit leiten wird. Der Gedanke, dass alle großen Religionen letztlich derselben Quelle entspringen und nach Baha’u’llah „Strahlen desselben Lichts“ sind, klingt beim ersten Hinhören sehr tolerant und entspricht dem Religionsverständnis vieler Menschen auch in unserem Land. Die Popularität des Baha’i-Glaubens ist nicht zuletzt auf diesen Gedanken zurückzuführen, dass man beispielsweise sein Christsein doch gar nicht aufgeben muss, wenn man Baha’i wird, sondern dass durch die Zugehörigkeit zur Baha’i-Religion dieser Glaube lediglich noch weiter vervollkommnet wird. In Wirklichkeit ist die Vereinnahmungsstrategie der Baha’i-Religion jedoch alles andere als „tolerant“, da sie auf der Anerkennung Baha’u’llahs als der gegenwärtigen Manifestation Gottes beruht. Das Neue Testament widerspricht diesen Vereinnahmungsversuchen in aller Deutlichkeit: Jesus Christus ist eben nicht bloß ein Prophet oder ein Vorläufer eines Größeren. In ihm hat sich Gott abschließend und endgültig zu erkennen gegeben. Auch für Baha’u’llah gelten die Worte Jesu: „Es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen.“ (St. Matthäus 24,5) „Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!“ (St. Lukas 17,23)
Die Baha’i-Religion ist gewiss eine eigenständige Religion. Dennoch trägt sie in vielem weiterhin die Züge islamischen Denkens. Wie der Islam versteht sich die Baha’i-Religion als Buch- und Gesetzesreligion; auch ihr geht es um die Schaffung einer politischen Weltordnung, die auf den von ihr verkündigten Gesetzen beruht. Diese neue Weltordnung hat die Einheit der Menschheit unter einem bestimmten religiösen Vorzeichen zum Ziel: In ihr wird eine „Weltgesetzgeberschaft“ amtieren, die für alle Menschen die Gesetze erlassen wird. Der Einheit der Menschheit dienen auch eine „Weltvollzugsmacht“ und ein „Weltschiedsgerichtshof“, ebenso wie die Schaffung einer „Weltsprache“, und einer „Weltschrift“. „Ein Weltbundsystem, das über die ganze Erde herrscht … und Ideale des Ostens wie des Westens verkörpert und in Einklang bringt, … ein System, in dem die Macht zur Dienerin der Gerechtigkeit geworden ist und dessen Dasein getragen wird durch die allgemeine Anerkennung eines Gottes und durch seine Treue zu einer gemeinsamen Offenbarung – das ist das Ziel, auf das sich die Menschheit zubewegt.“ Diese Gedanken klingen zunächst einmal sehr modern und scheinen zum Teil ja auch bereits ihre Verwirklichung in der Schaffung weltumspannender Organisationen wie etwa der Vereinten Nationen gefunden zu haben. In der Tat arbeitet die Baha’i-Organisation in vielfältiger Weise mit den Vereinten Nationen zusammen und ist von diesen als „NGO“, als Nichtregierungsorganisation, anerkannt. Problematisch ist jedoch das optimistische Menschen- und Geschichtsbild, das darin zum Ausdruck kommt und sich, in mancher Hinsicht ganz ähnlich wie der Kommunismus als typisches „Kind des 19. Jahrhunderts“ erweist: Die Menschheit entwickelt sich im Laufe der Zeit gleichsam von selbst zum immer Besseren weiter. Doch was ist mit denen, die sich im Laufe dieser Entwicklung der „allgemeinen Anerkennung eines Gottes“ (die nach Auffassung der Baha’i – ganz in Übereinstimmung mit dem Islam – die Ablehnung eines Bekenntnisses zur Dreieinigkeit Gottes einschließt) verweigern und auch die eine gemeinsame (Baha’i-)Offenbarung nicht anerkennen, auf denen die Einheit der Menschheit künftig beruhen wird? Die Erfahrung hat gezeigt, dass Religionen und Ideologien, die davon ausgehen, dass sich die Menschheit gleichsam von selbst zum Besseren entwickelt, sehr oft den Hang zum Totalitarismus in sich tragen, sobald sie mit einer Wirklichkeit konfrontiert werden, die ihrem Entwicklungsdenken widerspricht. Das zunächst so faszinierend klingende Modell einer „Theokratie“, also einer Weltherrschaft unter der gemeinsamen Anerkennung einer Religion und der durch sie erlassenen Gebote, ist aus christlicher Sicht höchst problematisch und trägt, wenn man die Johannesoffenbarung liest, eher die Züge des Antichrists. Trotzdem muss man anerkennen, dass die Baha’i-Religion von ihren Anhängern sehr bewusst nur auf dem Wege der Verkündigung und des Vorlebens verbreitet wird, ohne den Einsatz irgendwelcher Druckmittel: Private Gespräche, öffentliche Veranstaltungen und Publikationen sind neben dem persönlichen Leben des einzelnen Baha’i die wesentlichen Mittel der Religionsverbreitung, da die selbstständige Wahrheitssuche der Baha’i-Religion zufolge zu den Freiheitsrechten eines jeden Menschen zählt. Gerade dies macht die Baha’i-Religion für viele Menschen auch wieder besonders attraktiv. Dazu kommt, dass die Baha’i-Religion mit ihren Anhängern gerade im Iran seit ihrer Entstehung immer wieder von Verfolgung betroffen worden ist. Dies gilt in besonderer Weise auch unter dem jetzigen Regime, zumal die Baha’i sich zuvor in Persien sehr deutlich auf die Seite des Schahs gestellt hatten, unter dem sie praktisch, wenn auch nicht offiziell, Religionsfreiheit genossen.
Der Fortschrittsgedanke der Baha’i-Religion beruht auf einem sehr positiven Menschenbild: Ausgehend vom Gedanken der Evolution wird der Mensch als grundsätzlich gut angesehen, dessen Aufgabe es ist, sich zum immer Besseren fortzuentwickeln. Eben dazu dient auch das irdische Leben des Menschen: Er soll sich dadurch auf die jenseitige Welt vorbereiten, dass er sich alle möglichen positiven Tugenden aneignet. Der Erreichung dieses Ziels dienen die Lehren Baha’u’llahs. Die Baha’i-Religion lehrt die Unsterblichkeit der Seele, die durch den Tod vom Gefängnis des Körpers befreit wird. Bis dahin muss sie sich bestimmte Eigenschaften aneignen, um in der neuen geistigen Welt lebenstauglich zu sein.
In diesen ebenfalls sehr aktuell klingenden Gedanken ist kein Platz für Sünde, Erlösung und Vergebung im christlichen Sinne: Der Mensch erlöst sich, unter Mithilfe der Offenbarungen Baha’u’llahs, durch sein tugendhaftes Leben selber. Sakramente gibt es entsprechend in der Baha’i-Religion nicht. Auch der Eintritt in die Baha’i-Organisation erfolgt nicht durch einen Ritus, sondern durch eine schriftliche Erklärung gegenüber dem „Nationalen Geistigen Rat der Baha’i“, dass man Baha’u’llah als die Manifestation Gottes unseres Zeitalters anerkennt und sich zu seinen Schriften bekennt. Den Mittelpunkt des Gemeindelebens der Baha’i bildet das 19-Tagefest, das zu Beginn eines jeden der 19 Monate des Baha’i-Kalenders gefeiert wird und bei dem in einer gemeinsamen Andacht gebetet und aus den heiligen Schriften gelesen wird. Wenn der Baha’ismus auch eine Laienreligion ist, in der es keine Priester gibt, verfügt er doch über eine straffe und gut organisierte Hierarchie mit einem aus neun Mitgliedern bestehenden „Universalen Haus der Gerechtigkeit“ als Führungsspitze. Dieses Leitungsgremium gilt als unfehlbar; jedes Mitglied ist ihm zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Wenn auch dies noch einmal den Baha’ismus als eigenständige Religion erkennbar werden lässt, bleibt seine Nähe zum Islam doch in vielem unverkennbar. Dazu zählt beispielsweise auch die Übernahme der „fünf Pfeiler der Religion“: Das Glaubensbekenntnis zur Einheit und absoluten Jenseitigkeit Gottes, die regelmäßigen täglichen Gebete (mit Blickrichtung nach Akka!), das Fasten über 19 Tage im letzten Monat des Baha’i-Kalenders, die Abgabe von 19 Prozent des Vermögenszuwachses an die zuständige Gemeinde und die Wallfahrt nach Akka. Von diesen „fünf Säulen“ erfahren Menschen, die für den Baha’i-Glauben geworben werden, jedoch oftmals zunächst wenig, auch in den offiziellen Präsentationen, was die Seriosität der Missionspraxis der Baha’i, die die Baha’i-Religion als besonders fortschrittlich herauszustellen versucht, schon ein wenig in ein ungünstiges Licht rückt. Doch auch abgesehen davon bleibt die Baha’i-Religion eine typische Gesetzesreligion, die mit der christlichen Botschaft von unserer Erlösung allein durch Jesus Christus ohne unser Tun in keiner Weise vereinbar ist und bleibt. Ihrem Selbstanspruch muss darum immer wieder aus christlicher Sicht ganz deutlich und energisch – bei allem Respekt vor der humanistischen Lebensausrichtung und dem sozialen Engagement vieler Baha’i – widersprochen werden.