10.06.2007 | Psalm 37, 5 + Befiehl du deine Wege - Paul Gerhardt (1. Sonntag nach Trinitatis)

ERSTER SONNTAG NACH TRINITATIS – 10. JUNI 2007 – PREDIGT ÜBER PSALM 37,5 (+ ELKG 294)

Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn; ER wird’s wohl machen.

Man hatte sie ins Frauengefängnis nach Berlin-Lichtenberg gebracht, Emmy Goldacker, eine junge Frau mit jüdischen Vorfahren. Auf wundersame Weise hatte sie das Dritte Reich überlebt; doch nun war sie von der Roten Armee verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden. Eines Tages öffnete sich die Tür ihrer Gefängniszelle, und sie sah, wie ein sowjetischer Soldat aus einem Gesangbuch ein Blatt herausriss, darin einen Fisch wickelte und ihn ihr so verpackt in die Gefängniszelle warf. Emmy Goldacker nahm das Blatt, in das der Fisch eingewickelt war: Paul Gerhardts Lied „Befiehl du deine Wege“ stand darauf. Sie kannte das Lied aus ihrem Konfirmandenunterricht; es hatte ihr bisher in ihrem Leben nicht sonderlich viel gesagt; doch jetzt merkte sie: Dieses Blatt ist eine Kostbarkeit. Sie trocknete es sorgfältig und versteckte es in ihrer Kleidung; das Blatt mit dem Lied sollte sie die folgenden zehn Jahre durch verschiedene Arbeitslager in Sibirien begleiten. Schließlich, kurz vor ihrer Entlassung, schenkte sie das Blatt einem anderen deutschsprachigen Gefangenen; das Lied, das ihr über all die Jahre so sehr geholfen hatte, sollte auch ihm nun eine Hilfe werden.
Mehr als 350 Jahre ist es her, dass Paul Gerhardt sein Lied „Befiehl du deine Wege“ gedichtet hat. Es waren die ersten Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, als dieses Lied entstand; von der Bevölkerung der kleinen Stadt Mittenwalde, in der Paul Gerhardt seinen Dienst als Pfarrer versah, war in den Wirren dieses Krieges gerade noch ein Viertel am Leben geblieben; wohl fast täglich sah sich Paul Gerhardt mit den furchtbaren Folgen dieses Krieges konfrontiert, wenn er mit seinen Gemeindegliedern zu tun hatte. Nein, dieses Lied ist nicht am grünen Tisch entstanden, es ist nicht geschrieben worden nach dem Motto „Reim dich oder ich fress dich“; es ist vielmehr geschrieben aus eigener persönlicher Erfahrung. Und dann ist dieses Lied weitergereicht worden von einer Generation zur nächsten, haben seitdem unzählige Menschen ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit diesem Lied gemacht, haben erfahren, dass eben dies, was dieses Lied aussagt, hält und trägt, auch und gerade in scheinbar ausweglosen Situationen im Leben. Reich gesättigt von geistlicher Erfahrung so vieler, die uns im Glauben vorangegangen sind, hat uns dieses Lied erreicht, tragen diese Erfahrungen, die man diesem Lied abspürt, wohl mit zu seiner besonderen Strahlkraft bei. Und nun gibt es heute Morgen in unserer Mitte auch viele, die selber schon ihre eigenen Erfahrungen mit diesem Lied gemacht haben, die selber auch schon erfahren haben, dass dieses Lied zu trösten vermag wie kaum ein anderes. Wie viele von uns, und ich schließe mich selber da auch mit ein, haben das schon erlebt, dass sie voller Kummer und Sorgen nachts schlaflos in ihrem Bett lagen und dass sie dann einfach die zwölf Strophen dieses Liedes gebetet haben und am Ende merkten, wie dieses Lied ihnen Frieden schenkte, wie es seine tröstende Kraft auch an ihnen persönlich entfaltete.
Und genau dieses Lied „Befiehl du deine Wege“ möchte ich nun in dieser Predigt euch allen miteinander ans Herz legen, möchte diejenigen, die dieses Lied noch nicht auswendig können, ermutigen, es auswendig zu lernen, jawohl alle zwölf Strophen, weil dieses Lied eine eiserne Ration darstellt, von der wir als Christen leben können, weil ihr alle miteinander in eurem Leben in solche Situationen kommen werdet oder schon in solchen Situationen seid, in denen ihr dieses Lied und seine Botschaft braucht, und weil ihr eben nicht unbedingt damit rechnen könnt, dass es auch bei euch geschieht, dass zur rechten Zeit dann noch ein russischer Soldat euch den Text dieses Liedes vor die Nase hält.
Die Abfolge der Strophen lässt sich bei diesem Lied ganz einfach merken, denn es ist ein sogenanntes Akrostichon, ein Lied, bei dem die Anfänge der einzelnen Strophen hintereinandergelesen einen ganzen Satz ergeben, eben den fünften Vers des 37. Psalms, den ich eben verlesen habe: Befiehl dem HERRN deine Wege und hoffe auf ihn; ER wird’s wohl machen. Den Inhalt dieses Psalmverses entfaltet Paul Gerhardt in wunderbarer Weise in seinem Lied, macht dies ganz ähnlich, wie er auch seine Predigten aufzubauen pflegte: Der Einleitung, in der das Thema dargeboten wird, schließt sich eine dogmatische Grundlegung an, gefolgt von einer praktisch-seelsorgerlichen Nutzanwendung und einem abschließenden Gebet.
Schauen wir uns zunächst einmal die Einführung in das Thema an, die uns in den Strophen 1 und 2 dargeboten wird:
Um unsere Wege geht es in diesem Lied, um die Frage, wie es auf unserem Lebensweg eigentlich weitergehen soll. Ach, wie aussagekräftig ist dieses Bild von dem „Weg“, auf dem wir uns befinden, wie treffend beschreibt dieses Bild die Situation, in der sich Menschen in ganz unterschiedlichen Lebensaltern befinden: Was soll ich einmal für einen Beruf erlernen? Was soll ich einmal studieren? Wie lange soll ich noch arbeitslos bleiben? Wie komme ich aus meinen Schulden wieder heraus? Wie finde ich die richtige Frau, den richtigen Mann fürs Leben? Wie soll ich bloß die ganzen Prüfungen schaffen, die vor mir liegen? Wie kann ich bloß mit meinem Versagen klarkommen? Wie kann ich verhindern, dass meine Kinder vom rechten Weg abkommen? Wie soll ich bloß mit dem Tod eines geliebten Menschen klarkommen? Wie soll ich damit klarkommen, dass ich krank bin und es einfach nicht besser wird? Wie lange werde ich noch in meiner Wohnung bleiben können, oder werde ich doch ins Pflegeheim gehen müssen? Wie soll ich bloß mit meiner Einsamkeit fertigwerden? Wie soll es bloß in Zukunft mit mir, mit meiner Familie, mit der ganzen Welt weitergehen? Ach, Schwestern und Brüder, ihr wisst, dass man dieser Liste an Fragen noch so viele andere hinzufügen könnte. Immer wieder geht es um den Weg, um unsere Wege, um das, was unser Herze kränkt. Mir fällt bei diesem Lied immer wieder meine Fahrt in der Mongolei durch die Wüste Gobi ein: Viele verschiedene eingefahrene Wege sah ich da immer vor mir, und von mir aus hätte ich keine Ahnung gehabt, welchen Weg ich nehmen sollte, welcher zum Ziel führen würde. Ich konnte mich nur ganz meinem mongolischen Fahrer anvertrauen, dass der den richtigen Weg im Gewirr dieser vielen verschiedenen Wege schon finden würde, und er fand ihn dann auch, Gott sei Dank! Einen Experten brauchen wir also, um auf unserem Lebensweg weiterzukommen, wenn wir selber gar nicht mehr wissen, wie der Weg noch aussehen kann, den wir gehen können. Und auf diesen Experten verweist Paul Gerhardt in der Einleitung seines Liedes: Es ist der, der den Himmel lenkt, der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn. Nein, nicht Horoskope weisen mir den richtigen Weg, den ich gehen soll, nicht meine innere Stimme zeigt ihn mir, und erst recht komme ich nicht dadurch voran, dass ich mich selber mit meinen Sorgen quäle, immer wieder um mich selber kreise, als ob alles von mir abhinge, als ob ich mit meinem Sorgen irgendetwas verbessern könnte. Nein, weiterhelfen kann allein der, der nicht nur Wege weisen, sondern selber Wege finden kann, er, der HERR. Er, der die Welt so wunderbar geschaffen hat, der bis zum heutigen Tag dafür gesorgt hat, dass diese Welt immer noch besteht, der auch in Zeiten des Klimawandelns immer noch der Herr über Wolken, Luft und Winde bleibt, er hat damit gezeigt, dass er der Experte ist, an den man sich mit der Frage nach dem Weg des Lebens wenden sollte.
Ja, dazu, dass wir uns tatsächlich an ihn wenden, leitet uns Paul Gerhardt in diesem Lied an. Er predigt keine blinde Schicksalsgläubigkeit, dass sowieso alles kommt, wie es kommt, dass man alles nun mal hinzunehmen habe. Nein, gerade weil der HERR es ist, der die Wege finden kann, auf denen wir gehen können, sollen und dürfen wir selber aktiv werden – aktiv darin, dass wir uns an diesen Herrn immer wieder im Gebet wenden, unsere Sorgen bei ihm abladen, unser Leben an ihm und seinem Wort ausrichten. Wer Gott vertraut, der legt seine Hände gerade nicht in den Schoß, der faltet sie, der fragt nach ihm, nach seinem Willen, der ringt vielleicht auch mit ihm im Gebet, und der geht dann auch los, in der getrosten Zuversicht, dass Gott ihm dann auch die rechten Wege weisen wird. Nein, all das ist nicht selbstverständlich, das ist etwas, was man sich zusprechen lassen muss, was Paul Gerhardt und die vielen anderen, die nach ihm mit diesem Lied gelebt haben, uns mit den Worten dieses Liedes zurufen. Ich muss mich nicht bloß selbst bespiegeln; da gibt es andere, die mich ansprechen, „Du“ zu mir sagen, aus ihrer geistlichen Lebenserfahrung berichten. Und so lasst uns nun zunächst die ersten beiden Strophen, die Themenangabe des Liedes, miteinander singen:

ELKG 294,1+2
Befiehl du deine Wege, / und was dein Herze kränkt,
der allertreusten Pflege / des, der den Himmel lenkt!
Der Wolken, Luft und Winden, / gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.

Dem Herren mußt du trauen, / wenn dirs soll wohlergehn;
auf sein Werk mußst du schauen, / wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen / und mit selbsteigner Pein
läßt Gott sich gar nichts nehmen, / es muß erbeten sein.

Wie kommen wir dazu, Gott das zuzutrauen, dass unsere Lebenswege bei ihm gut aufgehoben sind, dass er uns in unserem Leben so lenkt und leitet, wie es für uns am besten ist? Paul Gerhardt hatte die Antworten auf diese Fragen in seinem Theologiestudium in Wittenberg gelernt. Er studierte dort an der Universität in der Blütezeit der lutherischen Orthodoxie, einem Zeitalter der Theologie, in dem man alle Fragen des christlichen Glaubens aufgrund der Heiligen Schrift ganz systematisch behandelte und die Antworten lehrbuchmäßig zusammenfasste. Und so gab es damals auch ein Lehrstück von der Vorsehung und Fürsorge Gottes, das Paul Gerhardt in den Strophen 3 bis 5 seines Liedes in unnachahmlicher Weise in Gedichtform zusammenfasst. Eine dreifache Antwort gab die lutherische Orthodoxie auf die Frage nach der Vorsehung und Fürsorge Gottes, seiner Providenz: Gott weiß und sieht alles voraus, er will für uns nur das Beste, und er führt seinen guten Ratschluss für uns dann auch tatsächlich aus. Und genau diese dreifache Antwort formuliert Paul Gerhardt nun auch in der dritten Strophe seines Liedes: „Dein ewge Treu und Gnade, o Vater, weiß und sieht, was gut sei oder schade dem sterblichen Geblüt; und was du dann erlesen, das treibst du, starker Held, und bringst zum Stand und Wesen, was deinem Rat gefällt.“ Gott weiß alles, er will nur das Beste für uns, und er führt seinen Ratschluss aus – nein, das ist keine logische, allgemeine Wahrheit. Sondern so kann nur der sprechen, der getauft ist, der weiß, dass Gott sein Vater ist, ja dieses Bekenntnis zu Gottes Vorsehung und Fürsorge kann man letztlich nur in der Form des Gebets zum Ausdruck bringen, so macht Paul Gerhardt es deutlich und formuliert dieses Bekenntnis entsprechend auch als Anrede an Gott, genau wie die vierte Strophe, die noch einmal beschreibt, dass Gott sich durch nichts und niemanden hindern lässt, seinen guten Ratschluss, den er über uns gefasst hat, auch tatsächlich auszuführen. Und das ist ebenfalls alles andere als logisch und selbstverständlich. Denn in unserem Leben erfahren wir ja scheinbar das Gegenteil, erleben, dass es da so vieles gibt, was Gottes gutem Willen widerstrebt: Wenn wir uns die Nachrichten abends anschauen, dann kommen uns die Worte „Dein Tun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht“ eben nicht automatisch über die Lippen. Doch auch dieser Punkt gehört in die Lehre von der Vorsehung und Fürsorge Gottes hinein, dass es nicht unklar und unsicher bleibt, wer sich im Kampf zwischen Gott und den gottfeindlichen Mächten am Ende einmal durchsetzen wird: „Und ob gleich alle Teufel hier wollten widerstehn, so wird doch ohne Zweifel Gott nicht zurücke gehn; was er sich vorgenommen und was er haben will, das muss doch endlich kommen zu seinem Zweck und Ziel.“ Ja, ein Bekenntnis ist das gegen allen Augenschein, oft genug gegen alle Erfahrung. Und doch hat dieses Bekenntnis einen festen Grund: die Zusage Gottes, die er uns in unserer Taufe gegeben hat. Da hat er den Widerstand aller Teufel gebrochen, da hat er uns auch ganz klar gesagt, wie er zu uns steht und was er für uns will. Wir brauchen nicht darüber zu spekulieren, ob Gott es wirklich gut mit uns meint. Nichts auf der Welt gibt es, was Gott dazu veranlassen könnte, seine Zusage an uns jemals wieder zurückzunehmen; nichts auf der Welt gibt es, was ihn zwingen könnte, seinen guten Plan für unser Leben wieder fallen zu lassen. Daran darf ich mich festhalten, auch wenn mir noch so viel durch den Kopf geht, wenn es noch so viel gibt, was mich zu Boden drückt, wenn es noch so viele Fragen gibt, auf die ich selber in meinem Leben keine Antwort finde: „Was er sich vorgenommen und was er haben will, das muss doch endlich kommen zu seinem Zweck und Ziel.“ Wir singen nun die Strophen 3 bis 5:

ELKG 294,3-5
"Dein ewge Treu und Gnade, / o Vater, weiß und sieht,
was gut sei oder schade / dem sterblichen Geblüt;
und was du dann erlesen, / das treibst du, starker Held,
und bringst zum Stand und Wesen, / was deinem Rat gefällt.

Weg hast du allerwegen, / an Mitteln fehlt dirs nicht;
dein Tun ist lauter Segen, / dein Gang ist lauter Licht,
dein Werk kann niemand hindern, / dein Arbeit darf nicht ruhn,
wenn du, was deinen Kindern / ersprießlich ist, willst tun."

Und ob gleich alle Teufel / hier wollten widerstehn,
so wird doch ohne Zweifel / Gott nicht zurückegehn;
was er sich vorgenommen / und was er haben will,
das muß doch endlich kommen / zu seinem Zweck und Ziel.

Auf die Lehre folgt die Anwendung aufs Leben, so hatte es Paul Gerhardt in seinem Theologiestudium gelernt, und genau so macht er es nun auch in seinem Lied: Jetzt spricht er ab der sechsten Strophe sehr persönlich davon, was diese Lehre von der Vorsehung Gottes für uns und unser Leben bedeutet. Von Kummer, von Schmerz, von Sorgen ist in den Strophen 6 bis 8 immer wieder die Rede. Nein, die Lehre von der Vorsehung Gottes besagt gerade nicht, dass es uns als Christen immer gut geht, dass alles in unserem Leben immer nur glatt läuft und wir Gottes Führung immer mit Händen greifen können. „Glaube an Jesus, und du fühlst dich immer glücklich!“ – Nein, das ist gerade nicht die Botschaft der Heiligen Schrift, das ist auch nicht die Botschaft des Liedes von Paul Gerhardt. Im Gegenteil: Die Lehre von Gottes Vorsehung und Fürsorge entfaltet gerade da ihre tröstende Kraft in unserem Leben, wenn wir uns in der Höhle befinden, da uns der Kummer plagt, wie Paul Gerhardt es so plastisch formuliert. Einen doppelten Trost vermag diese Lehre uns in unserem Schmerz, in unserer Sorge zu vermitteln: Zum einen entlastet sie uns von dem falschen Wahn, wir selber müssten es schaffen, in unserem Leben alles gelingen zu lassen: „Bist du doch nicht Regente, der alles führen soll, Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.“ Nicht wir müssen uns sorgen; Gott sorgt für uns. Und er sorgt zum andern so für uns, sorgt so für dich ganz persönlich, dass du dich wundern wirst. Ja, der Zeitpunkt wird kommen, an dem wir einmal zurückblicken werden und staunen werden, staunen darüber, wie Gott uns in unserem Leben geführt hat, wie er mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.
Schwestern und Brüder, wenn ich mitbekomme, was so manche von euch in eurem Leben alles haben durchmachen müssen und immer noch durchmachen, dann kann ich das oft genug auch nicht erklären und verstehen, dann scheint mir das völlig rätselhaft zu sein, wie Gott dies alles zulassen konnte, wie er euch solche Lasten in eurem Leben auferlegen konnte. Ach, wie billig wäre es, da mit Sprüchen zu kommen wie „Kopf hoch, wird schon wieder!“ Paul Gerhardt meint viel mehr, meint etwas ganz anderes, wenn er schreibt: „Erwarte nur die Zeit, so wirst du schon erblicken die Sonn der schönsten Freud.“ Es mag sein, dass wir mitunter schon jetzt in unserem Leben ein wenig zu ahnen beginnen, warum uns Gott so und nicht anders geführt hat. Aber die Antworten, die all unsere Fragen stillen, die bekommen wir eben erst da, wenn wir den erblicken werden, den Paul Gerhardt immer wieder als seine Sonne bezeichnet, ihn, Jesus Christus.
Doch bis es soweit ist, mag uns Gott immer wieder fremd, ja mitunter wie eine Fratze erscheinen, mögen wir den Eindruck haben, als würde er schweigen und wolle von uns nichts mehr wissen: „Er wird zwar eine Weile mit seinem Trost verziehn und tun an seinem Teile, als hätt in seinem Sinn er deiner sich begeben, und, sollst du für und für in Angst und Nöten schweben, als frag er nichts nach dir.“ Aber das ist eben nicht das Letzte, was wir von Gott aussagen können, was wir von ihm erfahren können. Dass Gott sich uns am Ende doch als der liebevolle Vater zu erkennen geben wird, der nichts Böses für uns gewollt hat, dass sein Taufversprechen tausendprozentig feststeht, darauf dürfen wir uns verlassen, so fest verlassen, dass Paul Gerhardt hier von dieser Zukunft schon wie von der Gegenwart reden kann: Selig gepriesen wird hier der Christ, der jetzt im Augenblick noch nichts anderes als Kummer, als Schmerzen und Sorgen erlebt, der jetzt noch eine so schwere Last trägt. Selig gepriesen wird er jetzt schon, weil er zugleich doch schon am Ziel angekommen ist. Wenn Gott uns die Zusage gibt, dass unser Leben am Ende doch in die Gemeinschaft mit ihm mündet, dass alle Sorgen und Lasten einmal von uns abfallen werden, ja, wenn er uns diese Zusage gibt, dann ist damit die Zukunft schon Gegenwart, dann ruft Paul Gerhardt uns von seinem Platz vor dem Thron Gottes schon zu: „Wohl dir, du Kind der Treue, du hast und trägst davon mit Ruhm und Dankgeschreie den Sieg und Ehrenkron; Gott gibt dir selbst die Palmen in deine rechte Hand, und du singst Freudenpsalmen dem, der dein Leid gewandt.“ Ja, wenn wir das Heilige Mahl feiern, wenn wir unserem Herrn bei seiner Ankunft zujubeln: Gebenedeit sei Mariensohn, der da kommt im Namen des Herrn, da schwenken wir schon unsere Palmen, da erleben wir schon einen Vorgeschmack dessen, wie einmal all unser Kummer und all unsere Sorgen endgültig der Vergangenheit angehören werden.
Ja, ich weiß, dies zu glauben, dies anzunehmen, fällt uns oft so schwer. Paul Gerhardt wusste das auch, und darum redet er in diesen Strophen auch so eindringlich, zieht alle Register, die ihm sprachlich zur Verfügung stehen, um uns diese Gewissheit ins Herz zu prägen, arbeitet darum bewusst mit dem Stilmittel der Wiederholung, der Doppelung: „Hoff, o du arme Seele, hoff und sei unverzagt! Auf, auf gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht! Ihn, ihn lass tun und walten.“ Ja, diese Gewissheit wollen auch wir uns nun wieder neu ins Herz prägen lassen und miteinander die Strophen 6 bis 11 singen:

ELKG 294,6-11
Hoff, o du arme Seele, / hoff und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle, / da dich der Kummer plagt,
mit großen Gnaden rücken; / erwarte nur die Zeit,
so wirst du schon erblicken / die Sonn der schönsten Freud.

Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht,
laß fahren, was dein Herze / betrübt und traurig macht;
bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll,
Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl.

Ihn, ihn laß tun und walten, / er ist ein weiser Fürst
und wird sich so verhalten, / daß du dich wundern wirst,
wenn er, wie ihm gebühret, / mit wunderbarem Rat
das Werk hinausgeführet, / das dich bekümmert hat.

Er wird zwar eine Weile / mit seinem Trost verziehn
und tun an seinem Teile, / als hätt in seinem Sinn
er deiner sich begeben / und, solltst du für und für
in Angst und Nöten schweben, / als frag er nichts nach dir.

Wirds aber sich befinden, / daß du ihm treu verbleibst,
so wird er dich entbinden, / da du's am mindsten gläubst;
er wird dein Herze lösen / von der so schweren Last,
die du zu keinem Bösen / bisher getragen hast.

Wohl dir, du Kind der Treue, / du hast und trägst davon
mit Ruhm und Dankgeschreie / den Sieg und Ehrenkron;
Gott gibt dir selbst die Palmen / in deine rechte Hand,
und du singst Freudenpsalmen / dem, der dein Leid gewandt.

Und auf diesen Zuspruch, den wir nun wieder gehört und gesungen haben, folgt nun am Schluss die Antwort, das Gebet, das sich direkt an Gott richtet: „Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Not!“ Christen sind keine Masochisten, die sich erst dann so richtig gut fühlen, wenn es ihnen so richtig schlecht geht. Wir dürfen Gott darum bitten, unsere Not zu beenden, uns aus der Not zu befreien, in der wir uns gerade befinden. Aber Christen sind zugleich nüchtern und wissen, dass das Ende all unsrer Not erst kommen wird, wenn unsere Wege zum Himmel eingegangen sind. Bis es soweit ist, sollen und dürfen wir Gott um Stärke und Begleitung bitten, dass er uns helfe zu tragen, was uns auferlegt wird. Noch sind wir nicht am Ziel. Aber dass wir am Ziel ankommen, so erklärt Paul Gerhardt am Schluss, das ist gewiss – nicht, weil wir solche Glaubenshelden wären, sondern weil Gott ein starker Held ist, weil seine Treue zu uns fest steht. Was für Wege Gott uns in unserem Leben noch führen wird – wir wissen es nicht. Aber eines steht felsenfest: Am Ende gehen unsre Wege gewiss zum Himmel ein. So ruft er es uns schon vom Ziel aus zu, Paul Gerhardt, der Glaubenszeuge, für den wir Gott an diesem Tage besonders danken und dessen Worte bis heute für uns so aktuell geblieben sind und die auch künftig aktuell bleiben werden – so aktuell, dass es sich allemal lohnt, sie auswendig zu lernen! Amen.
Kanzelsegen
Lasst uns nun zum Schluss noch die 12. Strophe singen:

ELKG 294,12
"Mach End, o Herr, mach Ende / mit aller unsrer Not;
stärk unsre Füß und Hände / und laß bis in den Tod
uns allzeit deiner Pflege / und Treu empfohlen sein,
so gehen unsre Wege / gewiß zum Himmel ein."