31.12.2011 | 2. Mose 13,20-22 | Altjahrsabend

Warum seid ihr eigentlich heute Abend hierher in die Kirche gekommen? Wenn hier in der Kirche ein Gottesdienst angeboten wird, dann kommen wir eben, mögt ihr antworten, und das ist sicher auch richtig. Und dennoch ist für die meisten von euch dieser Gottesdienst eben nicht einfach irgendein Gottesdienst wie ein Wochengottesdienst in der Woche nach dem soundsovielten Sonntag nach Trinitatis, ist für die meisten von euch auch dieser Abend nicht einfach irgendein Abend, nicht einfach ein Abend wie der Abend des 23. März oder des 17. September.

Den letzten Tag, den letzten Abend des Kalenderjahres verleben wir gerade – und dieser Tag, dieser Abend löst bei vielen von uns ganz besondere Gefühle aus, die zwar nicht unbedingt vernünftig, aber dafür umso intensiver sind: Einmal im Jahr, eben an diesem 31. Dezember, wird uns mit einem Mal bewusst, was doch eigentlich für unser ganzes Leben gilt, unser ganzes Leben ausmacht: Wir merken, dass wir in unserem Leben unterwegs sind, Vergangenes zurücklassen müssen und Künftigem entgegengehen, von dem wir jetzt noch keine Ahnung haben, wie es eigentlich aussehen wird. Einen ziemlich bunten Gefühlscocktail löst dieser Abend, löst dieses Bewusstmachen bei uns aus, eine Mischung aus Wehmut, Dankbarkeit, Sorge, Angst und Vorfreude. Und während wir uns an diesem Abend gleichsam einmal von der Seite betrachten, wie wir da unterwegs sind vom alten in das neue Jahr, hören wir nun die Worte aus dem 2. Buch Mose von dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Und wir spüren schnell: Das, was die Israeliten damals erfuhren, das ist ja genau auch unsere Situation, darin können wir uns sehr schnell und ziemlich unmittelbar auch selber wiederfinden.

Lange hatten die Israeliten darauf gewartet, endlich losmarschieren zu dürfen, endlich raus aus dem Sklavendienst in Ägypten, endlich los in die verheißene Freiheit. Doch als es nun so weit ist, geht alles dann doch viel schneller, als sie, die Israeliten, sich dies zuvor wohl gedacht hatten. Mit einem Mal müssen sie all das zurücklassen, was gewesen ist, ja, gewiss eine furchtbare Zeit, schlimme, schwere Erfahrungen, aber eben doch auch eine vertraute Umgebung und damit zugleich auch ihre bisherige Lebensgeschichte. Loslassen müssen sie, nach vorne blicken – und wissen zugleich doch gar nicht, wo es eigentlich hingehen soll, kennen noch nicht einmal den Weg, der vor ihnen liegt. Und doch laufen sie nicht einfach ziellos durch die Gegend wie ein wild gewordener Hühnerhaufen, nein, so heißt es in den Versen, die unserer Predigtlesung vorangehen: Israel zog wohlgeordnet aus Ägyptenland. Denn eine Orientierungsgröße hat es: Die Wolken- und Feuersäule, die vor dem Volk herzieht und ihm den Weg weist, die Wolken- und Feuersäule, die nicht nur Richtpunkt ist, sondern zugleich auch gewisses Zeichen der Gegenwart des Herrn, gewisses Zeichen, dass sie den Weg, der vor ihnen liegt, nicht werden allein gehen müssen. Der Weg, den sie gehen, ist nicht der kürzeste Weg, auch nicht der scheinbar logischste, sondern er führt die Israeliten erst einmal in die Wüste, scheinbar in eine ganz andere Richtung als nach Kanaan. Doch Gott weiß, warum er sein Volk diesen Weg führt, warum dieser Weg gut für sein Volk ist, auch wenn die Israeliten dies selber noch gar nicht erkennen können. Sie ahnen noch nicht einmal, wie verschlungen der Weg sein wird, der vor ihnen liegt, ahnen noch nicht, was für Herausforderungen ihres Glaubens auf sie zukommen. Noch marschieren sie ganz selbstverständlich immer hinter der Wolken- und Feuersäule her, kommen gar nicht auf die Idee, einen anderen Weg zu wählen. Ja, der Schreiber kann das Verhältnis zwischen der Wolken- und Feuersäule und dem Volk sogar umgekehrt beschreiben: Gott der HERR weicht mit diesem Zeichen seiner Gegenwart nicht von seinem Volk, bleibt immer da, wo sein Volk ist. So geht es dem Schilfmeer entgegen.

Schwestern und Brüder, eigentlich sind wir auch schon unser ganzes Leben lang unterwegs. Viele Glieder unserer Gemeinde haben dies in ihrem Leben ganz deutlich erfahren, weil auch sie ihre Heimat irgendwann einmal, oft auch sehr plötzlich, verlassen mussten, zurücklassen mussten, was ihnen so vertraut war. Doch auch wenn wir solche Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung selber nicht gemacht haben und auch wenn wir ganz nüchtern feststellen können, dass sich die Zeit am Abend des 31. Dezember nicht langsamer oder schneller bewegt als an jedem anderen Abend auch, spüren wir es an diesem Abend doch ganz besonders: Jawohl, wir sind unterwegs, genau wie die Israeliten damals auch.

Und das bedeutet auch für uns zunächst einmal: Wir müssen auf dem Weg, auf dem wir uns befinden, immer wieder Vergangenes zurücklassen. Da blicken wir an diesem Abend auf das Jahr 2011 zurück. Und da wird wohl ein jeder von uns Erfahrungen aus diesem vergangenen Jahr benennen können, die er gerne in diesem vergangenen Jahr zurücklässt, die er nicht noch einmal machen möchte, die einen möglichst nicht ins neue Jahr begleiten sollen: Krankheiten, Unfälle, Enttäuschungen, Schicksalsschläge, Erfahrungen von Schuld und Versagen. Und da gibt es aber zugleich auch vieles, was wir am Ende dieses Jahres nur ganz schweren Herzens zurücklassen, was wir so gerne mit ins neue Jahr nehmen würden und doch wissen, dass das nicht geht: Menschen müssen wir zurücklassen, von denen wir uns in diesem Jahr verabschiedet haben – weil sie gestorben sind oder weil sie aus unserem Lebensumkreis weggezogen sind. Lebensabschnitte sind vielleicht für uns zu Ende gegangen, von denen wir ahnen oder wissen, dass sie sich nicht mehr zurückholen lassen. Gesundheitliche Einschränkungen haben sich vielleicht bei uns eingestellt, von denen wir ebenfalls ahnen oder wissen, dass sie sich nicht mehr rückgängig machen lassen, dass uns manches für den Rest unseres Lebens nicht mehr möglich sein wird, was vor gar nicht langer Zeit noch so selbstverständlich erschien. Nein, das Loslassen fällt uns nicht leicht an diesem Abend, auch wenn uns bewusst ist, dass wir gar nicht anders können, als loszulassen, dass wir nur nach vorne, nicht aber zurückmarschieren können. Doch eines dürfen auch wir wissen, wie die Israeliten damals auch: Hinter uns liegt vor allem auch Gottes gnädige Bewahrung und Verschonung. Wie Gott damals die Israeliten in Ägypten in der Nacht des Auszugs vor dem Tod bewahrte, so hat er auch uns vor dem Tod bewahrt in unserer Taufe, hat uns gerettet und auf den Weg in ein neues Leben gebracht. Und dieses entscheidende Ereignis unseres Lebens, das brauchen wir nun nicht in der Vergangenheit zurücklassen, das dürfen wir mitnehmen in das neue Jahr, dürfen es mitnehmen in die Zukunft als Trost und Stärkung für unseren weiteren Weg zum Ziel.

Und wo geht dieser Weg im neuen Jahr nun lang? Wir wissen es nicht, genauso wenig, wie die Israeliten es damals wussten, wohin sie geleitet würden. Nach Etam ging es zunächst einmal, heißt es hier. Wo Etam liegt – wir haben keine Ahnung, und wahrscheinlich hatten auch die Israeliten damals davon keine Ahnung, lernten es erst kennen, als sie da waren. Keiner von uns kennt auch nur die allernächsten Stationen unseres Weges im neuen Jahr, weiß jetzt schon, was ihn auch nur im Januar alles erwartet. Nur eines dürfen wir den Israeliten bei ihrem Weg schon mal abgucken: Der Weg verläuft nicht unbedingt so, wie wir dies erwarten, wie wir dies für gut und logisch halten würden. Gott führt sein Volk in der Folgezeit auf mancherlei Umwegen – und weiß doch, dass sein Volk diese Umwege nötig hat. Wenn unser Weg im neuen Jahr also nicht so geradlinig verläuft, wie wir uns dies wünschen würden und wie wir dies geplant haben, dann liegt dies gerade nicht daran, dass Gott uns verlassen hätte, dass wir nun ganz auf uns selbst gestellt wären. Im Gegenteil: Gott weiß, welche Wege auch für uns die besten sind, um schließlich am Ziel anzukommen, und mögen sie uns auch noch so unverständlich erscheinen.

Eines steht allerdings fest: das Ziel, zu dem Gott uns führen will, das Zuhause, das uns am Ende unseres Weges erwartet. Wir können es noch nicht sehen, und so mag es uns im Augenblick noch ganz unwirklich erscheinen, mögen wir nur auf die allernächsten Schritte schauen und dieses Ziel immer wieder so schnell vergessen. Doch Gott hat dieses Ziel klar vor Augen, und nichts lieber will er, als dass wir dieses Ziel schließlich auch erreichen.

Noch sind wir allerdings nicht da. Und so zählt für uns nur eins: Dass wir unser Leben immer wieder ausrichten an den Zeichen seiner Gegenwart. Eines sollen wir wissen: Gott zwingt uns nicht, den Weg zu gehen, den er uns in seinem Wort, den er uns mit seinen Zeichen weist. Ja, natürlich wären wir schön dumm, wenn wir allen Ernstes glaubten, wir könnten den Weg zum Ziel auch allein finden, einen Weg, der besser und einfacher ist als der, den Gott uns weisen will. Doch wenn wir uns selber für so klug halten, dann hält Gott uns nicht davon ab, unsere eigenen Wege zu gehen, Wege, die am Ende todsicher in der Wüste und nicht an dem Ziel ankommen, das Gott für uns eigentlich vorgesehen hat. Ja, auch daran sollen wir uns an diesem Silvesterabend erinnern lassen, dass wir uns nicht automatisch mit fortschreitendem Lebensalter dem Himmel entgegenbewegen. Dringend nötig haben wir es heute Abend und auch im neuen Jahr immer wieder, dass wir uns zurückrufen lassen von Gott, wo wir auf Abwege geraten sind, dass wir uns wieder neu an seinen Zeichen orientieren.

Gewiss, die Zeichen seiner Gegenwart, die Gott uns an den Rand unseres Lebensweges stellt, sind nicht so eindrucksvoll wie eine Feuersäule. Doch in ihnen ist Gott dennoch nicht weniger gegenwärtig als damals, als er sein Volk aus Ägypten in die Freiheit führte. Das Heilige Mahl, es ist das entscheidende Zeichen, ja die entscheidende Wegzehrung für uns auch im neuen Jahr auf dem Weg zum Ziel. Wenn wir uns an dieses Zeichen halten, dann dürfen wir gewiss sein: Wir gehen unseren Weg nicht allein. Christus geht diesen Weg mit uns mit. Bei der Wolken- und Feuersäule mussten die Israeliten damals auf Abstand bleiben. Christus lässt keinen Abstand zwischen sich und uns, verbindet sich aufs engste mit uns und hilft uns so, den Weg weiterzugehen, der für uns der beste ist, um am Ziel schließlich anzukommen.

Wann es soweit sein wird, dass wir das Ziel erreichen – wir wissen es nicht. Vielleicht ist dieses Silvester für uns schon das letzte unseres Lebens, vielleicht stehen uns in unserem Leben noch manche Wege bevor, von denen wir jetzt noch gar nichts ahnen. Doch eines ist klar: Derselbe Herr, der jetzt schon in seinen Zeichen bei uns gegenwärtig ist, erwartet uns auch am Ziel unseres Lebens, ganz gleich, ob er das Ziel schon bald mitten in unser Leben hineinschiebt am Tag seiner Wiederkunft oder ob wir dieses Ziel erst in der Stunde unseres Todes erreichen. Und einen Rat sollten wir auf jeden Fall beherzigen: Versuchen wir den Weg zum Ziel niemals allein zu gehen, suchen wir immer wieder die Gemeinschaft des Volkes Gottes, die Gemeinschaft der Gemeinde. Es marschiert sich leichter mit Weggefährten an der Seite, mit Weggefährten, die wie wir ihr Leben an den Zeichen der Gegenwart Gottes ausrichten. Wir dürfen uns darauf verlassen: Gott wird von seinen Volk nicht weichen, auch nicht in diesem neuen Jahr! Amen.